Bibel der Toten
wirklich.«
Jake setzte sich auf; er war in einem Bett. In einem sauberen weißen Bett in einem sauberen weißen Zimmer ohne Fenster. Tyrone stand am Fußende des Betts, lakonisch dagegengelehnt, mager in seiner Bluejeans.
»Aber …« Jake suchte nach seiner Armbanduhr. Sie war weg. »Wo bin ich? Wie lang war ich weg?«
»Sechs Tage, Mann! Du wärst fast abgekratzt. Die Ärzte mussten dich in ein künstliches Koma versetzen. Um dich durchzubringen. Aber jetzt müsstest du über den Berg sein. Sie haben dir das ganze Blut wieder zurückgepumpt. Diese Vollidioten, diese Trottel am hinteren Zugang, sie dachten, du wärst jemand anders. Wir haben nicht damit gerechnet, dass du von hinten kommen würdest.«
»Ty.« Jake war mehr als nur durcheinander und fragte sich, ob er immer noch halluzinierte. »Wo bin ich?«
Tyrone zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich.
»In Balagezong. In der Klinik. Oben auf dem Berg. Im Dorf Bala. Super Aussicht hier oben. Nur schade, dass du kein Fenster hast.
« Der Gedanke durchzuckte ihn wie ein Stromschlag.
»Chemda!«
Jake wollte vom Bett hochschießen – bloß gelang ihm das nicht. Ein metallisches Klirren und ein stechender Schmerz in seinen Fußgelenken verrieten ihm, warum. Er war an den Fußgelenken an das metallene Bettgestell gekettet.
Verständnislos schaute Jake auf die metallschellen um seine Beine. Wurde er hier festgehalten? Warum wurde er dann gerettet?
Tyrone schnalzte mit der Zunge.
»Nur keine Aufregung. Chemda geht es gut. Und hier, nimm das mal, du Irrer.« Tyrone warf eine Plastiktüte auf das Bett. »Tut mir leid, das mit den Fußschellen, reine Vorsichtsmaßnahme. Wir hatten Angst, du könntest in einen Abgrund stürzen, wenn du im Dunkeln zu dir kommst und aus lauter Panik blindlings nach drau-ßen rennst. Abgründe gibt es hier nämlich jede Menge.« Tyrone grinste. »Aber was quatsche ich hier lange rum. Du hast sicher Hunger. Iss erst mal was, ich komme gleich wieder. Dann reden wir weiter. Gibt ja auch einiges zu bequatschen.«
Damit verließ Tyrone das Zimmer. Jake stierte auf die kahle wei-ße Betonwand. Chemda fehlte nichts? Was war hier los? Wie hatte es Tyrone so schnell hierher geschafft? War er wirklich sechs Tage bewusstlos gewesen?
Es waren einfach zu viele Fragen. Und er hatte einen Mordshunger.
Die Plastiktüte enthielt mehrere Flaschen Mineralwasser und zwei in Folie verpackte Sandwiches. Jake trank das Wasser und aß die Sandwiches. Dann legte er sich, immer noch hungrig, zurück und studierte die Hämatome in seinen Armbeugen. Wo sie ihm das Blut abgepumpt hatten.
Das hatte er sich also nicht eingebildet.
Ihm schwirrte der Kopf vor lauter Fragen. Zudem hatte ihn die kurze Wachphase körperlich sehr angestrengt. Er verfiel wieder in einen halbbewussten Dämmerzustand. Irgendwann wurde sein Schlaf vom Quietschen der Tür gestört.
Tyrone. Der amerikanische Journalist musterte ihn mit einem sarkastischen Grinsen.
»Du sieht schon wieder viel besser aus. Ein bisschen Farbe im Gesicht. Für einen Engländer jedenfalls.«
Tyrone drehte den Stuhl, der neben dem Bett stand, und setzte sich verkehrt herum darauf und stützte die Arme auf die Lehne. Jake sah ihn verständnislos an.
»Okay«, sagte Tyrone. »Dann mal los. Was willst du wissen?«
»Das Einzige, was mich interessiert«, sagte Jake, »ist Chemda. Wo ist sie?«
»Immer mit der Ruhe, Mann. Du liebst sie wohl wirklich, hm? Es geht ihr gut. Ihr fehlt nichts. Was willst du sonst noch wissen?«
»Sovirom Sen. Hat er es geschafft, hierherzukommen?«
Tyrone rutschte mit dem Stuhl näher ans Bett.
»Ja. Er ist hier.« Tyrone seufzte. »Also schön. Du hast natürlich recht. Es ist wirklich alles ziemlich verwirrend. Lass es mich dir erklären. Als Erstes musst du wissen – jetzt halt dich mal fest.«
»Ja, was?«
»Sovirom Sen ist Roter Khmer. Und nicht nur das. Er hat in den siebziger Jahren sogar der politischen Führung angehört, gleich unter Ieng Sary und dem Schlächter. Ein hoher Kader. Im Schaltzentrum der Macht.«
Für Jake machte das alles nur noch schwerer verständlich. »Sen? Aber Ty, er ist in ganz Kambodscha als vehementer Antikommunist bekannt.«
»Von wegen, er hat sich nur geschickt verstellt. Er ist ein Heuchler. Ein Lügner. Er war einer der fanatischsten Befürworter des Regimes überhaupt. Bis die Roten Khmer entmachtet wurden. Aber Sen ist natürlich nicht blöd; er ist ein extrem intelligenter und weitblickender Mann. Ausgesprochen clever, wie
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