Bibel der Toten
Zusammenhänge erklärte, da wurde mir auf der Stelle klar, wie unsere Zusammenarbeit aussehen könnte. Ich habe die synergetischen Möglichkeiten sofort erkannt.«
»Du hast das tatsächlich alles nur wegen der Story gemacht? Du tickst ja nicht mehr ganz richtig.«
»Klar. Um seine Arbeit fortsetzen zu können, benötigt Sen Geld und Unterstützer für seine Experimente. Er wird sich in Kürze nach einem neuen Standort und neuen Geldgebern umsehen müssen – wenn Beijing endgültig den Geldhahn zudreht. Und um dieses neue Kapital zu bekommen, muss er an die Öffentlichkeit gehen, braucht er dringend Publicity. Er ist darauf angewiesen, dass alle Welt von seinen Erfolgen erfährt. Und das ist der Punkt, an dem ich ins Spiel komme. Ich werde darüber berichten, ich, ich, ich, der richtige Journalist.« Ein verschlagenes Grinsen. »Aber bevor er mir die ganze Geschichte erzählt hat, wollte er einen Beweis, dass auch wirklich Verlass auf mich ist. Ich sollte ihm etwas beschaffen, was er unbedingt haben wollte – und deshalb, ja, deshalb habe ich ihm erzählt, dass ihr in Bangkok seid, damit er sich Chemda schnappen und sie nach China bringen kann. Ich konnte ihn dazu überreden, dich in Ruhe zu lassen – weil ich dein Freund bin, dein Retter! Aber mir war natürlich klar, dass das nur eine Notlösung war.«
Tyrone schaute Jake in die Augen. Ohne mit einer Wimper zu zucken. Dann fuhr er fort:
»Sieh es doch mal so. Mir war von Anfang an klar, egal, wie oft ich dich noch raushaue, du bist und bleibst in Chemda verliebt und kannst nicht von ihr lassen, und früher oder später würde Sen erneut versuchen, dich aus dem Weg zu räumen, weil du einfach ein nerviges Arschloch bist. Wie sollte ich das verhindern?« Tyrone drehte sich kurz zur Seite, sodass sein Profil vom blauen Himmel Balas eingefasst wurde. »Und dann, einen Tag später, als ich über die Story nachdachte und mir Gedanken machte, wie sie funktionieren könnte – tja, da stellte sich mir ein weiteres Problem, Jake. Mir wurde klar, dass ich, wenn die Story wirklich einschlagen, wenn sie echte emotionale Wucht entwickeln sollte, die Leute davon überzeugen müsste, dass es sich dabei um eine gute Sache handelt, dass es eine Erfolgsstory ist.«
Sein Lächeln war von fast glaubhafter Aufrichtigkeit. »Denn, machen wir uns doch nichts vor, leicht zu verkaufen ist das Ganze nicht. Viele haben tiefe Narben davongetragen – und zwar in jeder Hinsicht. Sie wurden lobotomisiert. Verstümmelt. Zu Monstern gemacht. Daher stand für mich außer Frage, dass ich ein rundum positives Endergebnis präsentieren müsste, etwas, was jeder gutheißt, eine überzeugende Erfolgsstory, die von den Fehlschlägen ablenkt, irgendein persönliches Schicksal, die Geschichte eines Mannes, dessen Leben dank dieser unglaublichen neuen Operationsmethode eine grundlegende Veränderung erfahren hat – zum Besseren wohlgemerkt, Jake, in jeder Hinsicht zum Besseren.« Ein kurzes, theatralisches Zögern. »Und dann hatte ich diesen Geistesblitz. Natürlich! Plötzlich bist du mir eingefallen, ja, du, der gute alte von Schuldgefühlen geplagte, abergläubische Jake Thurby . Wenn ich dich zum Knalleffekt meiner Story machte, könnte ich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen! Damit hätte ich dich endgültig vor Sen und auch vor dir selbst gerettet – und gleichzeitig einen genialen Schluss gehabt. Du lieferst das persönliche Schicksal, du bist der Mann, der durch diesen neurochirurgischen Eingriff von seinen Schuldgefühlen und neurosen befreit wird. Mein grandioser Schlussakzent. Du. Deshalb habe ich dir verraten, wo Chemda festgehalten wurde, weil ich natürlich wusste, dass du dich sofort auf den Weg machen würdest, um sie zu befreien. Keine riskanten Entführungsversuche in den Straßen Bangkoks, nein, du würdest von selbst zu uns kommen. Was du ja auch prompt getan hast! Und hier sind wir. Verstehst du jetzt? Hast du kapiert?« Ty zwinkerte allen Ernstes. »So sieht es also aus, du bist ein neuer Mensch, ein vollkommen anderer Mensch, du sitzt im strahlenden Himalaya-Sonnenschein – und fühlst dich von Grund auf geläutert, wie neugeboren. Und das ist genau das, was ich wollte; es haucht meiner Story Leben ein! Du bist mein genialer Schlusspunkt. Mein Pulitzer-Preis. Ich danke dir.«
Er machte eine sarkastische, varietéhafte Verbeugung vor seinem Publikum. Am liebsten hätte sich Jake auf ihn gestürzt. Aber der Wachmann stand direkt neben ihm und hatte die Hand am Griff
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