Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
Vom Netzwerk:
egal.
    Das war der Unterschied, das war die Quintessenz der Veränderung. Sein Verstand war jetzt vollkommen luzid, wundervoll klar, so klar wie die Luft von Balagezong. Endlich konnte er über eine nicht von Dunst verhangene Landschaft zu den fernen Hügeln blicken.
    Er sah sich selbst als kleinen Jungen. Wie er mit seiner Schwester die Straße hinunterlief. Diese Erinnerung war neu, diese Erinnerung war alt, diese Erinnerung war sehr lange in ihm verkapselt gewesen. Doch jetzt wurden mit einem Mal lange verschlossene Öffnungen aufgerissen, die Feuertüren, die Barrieren, die er gegen die Wahrheit errichtet hatte. Sie wurden alle weggesprengt. Und jetzt erinnerte er sich plötzlich wieder.
    Er war sieben und seine Schwester war fünf, und sie liefen nach der Schule eine Straße entlang, und dann riss sich Becky von ihm los und rannte albern kichernd auf die Straße, und das Nächste, was Jake sah, war, wie seine Schwester von einem Auto erfasst und wie eine Puppe einfach an den Straßenrand geschleudert wurde und blutüberströmt liegen blieb. Mit zerschmettertem Körper. Tot. Ihr Kopf mit den blonden Haaren von einer Blutlache umgeben, ihre Augen starr und weit offen und nach oben verdreht.
    Die Himmelsdörfer blickten zu Jake herauf; er blickte zu ihnen hinab. Er stand über dem Himmel, höher als der Himmel. Ich brauche dich nicht mehr.
    Die ganze Zeit hatte er immer nur gedacht, es wäre seine Schuld. Die ganze Zeit hatten diese Schuldgefühle an ihm genagt, ohne dass er recht wusste, warum. Weil er die Erinnerung verdrängt hatte. Doch jetzt konnte er sich wieder ganz klar und deutlich an alles erinnern, und trotz aller Tragik war er froh.
    Seine Schwester, seine arme Schwester, war auf die Straße gelaufen, und er hatte es nicht verhindern können. Es war alles in Sekundenbruchteilen passiert. Es war nicht seine Schuld.
    Von frischer Energie und neuem Tatendrang durchströmt, ging Jake auf dem Yakpfad zu dem Stupa am Ende des Dorfs. Ein Tibeter in Chuba und Baumwollhose drehte eine schimmernde Messinggebetsmühle. Er nahm das Erscheinen des Fremden mit einem vagen, achselzuckenden Lächeln zur Kenntnis. Jake lächelte zurück und setzte sich auf die Stufen des Stupa und betrachtete das imposante Dreieck des heiligen Bergs. Der Weiße Buddhaberg. Die Wälder klebten an den steilen grauen Hängen und hielten mit ihren dunkelgrünen Zweigen den Nebel fest.
    Und dann kam die zweite Erinnerung; sie wurde ihm vor die Füße gelegt, klein, traurig und unbedeutend. Ein von einem Hund apportiertes Kaninchen. Ein geschossener Vogel, seine Federn jämmerlich zerrupft.
    Seine Mutter. Mit erstaunlicher Klarheit konnte sich Jake plötzlich wieder an die Kette der Ereignisse erinnern. Im Alter von neun oder zehn Jahren war er mitten in der Nacht aufgewacht und hatte ein Gesicht mit langen nassen Haaren über sich schweben sehen: seine Mutter, wie sie sich im Dunkeln weinend über ihn beugte und sich leise flüsternd von ihm verabschiedete: Jake, ich hab dich sehr lieb und werde dich immer lieb haben . Und dann küsste sie ihn. Und war weg.
    Ein weißes Gesicht in der Nacht, das weiße Gesicht seiner Mutter mit dem herben Aroma von Rotwein in ihrem Atem – es schwebte über ihm, und dann war es weg. Am nächsten Morgen merkten sie, dass sie von ihr verlassen worden waren. Trunksüchtig, am Kummer über Rebeccas Tod zerbrochen, hatte sie es nicht mehr bei ihnen ausgehalten.
    Jake blickte in den warmen blauen Himmel und ließ diese simple Wahrheit auf sich einwirken. Deshalb hatte er diese Träume gehabt, diese Träume von Frauen mit weißen Gesichtern und Köpfen ohne Körper. Das hatte nichts mit Hexerei zu tun gehabt, es war nur eine verborgene Erinnerung, ein versteckter Auslöser.
    Es war eine Tragödie gewesen, aber nicht seine Schuld. Eine sinnlose Tragödie, die einem bemitleidenswert kleinen Jungen widerfahren war – ihm selbst.
    Die Schuldgefühle waren verschwunden, das Dunkel hatte sich aufgelöst. Er war bloß ein Mann, der in einer erbarmungslosen Welt mit bedeutungslosem Leid konfrontiert wurde.
    Bedeutungslos.
    Jake blickte auf die bedeutungslosen Berge und den lächerlichen Stupa und den absurden Dorfbewohner. Die Nichtigkeit war ungeheuer. Das alles, alles, was irgendwo sichtbar war – Wälder und Himmel, hohe Zirruswolken und Dorfbewohner, Chemda auf der Terrasse und Zhongdian mit den Betonstörchen und Bangkok und England und die vielen Menschen überall und das ganze Sterben und Leiden – es war alles

Weitere Kostenlose Bücher