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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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sich tatsächlich anders fühlte. Da war nichts mehr von dieser kriecherischen Ehrfurcht, diesem devoten Sichkleinmachen, dieser selbsterniedrigenden menschlichen Unterwürfigkeit angesichts der Unermesslichkeit des Universums. Alles einfach weg. Stattdessen war Jake voller Stolz auf seine Spezies. Ich bin ich. Lebendig. Ich besitze ein Bewusstsein. Der Mensch, der erhabene Mensch, das erhabenste Werk der Evolution.
    »Ich fühle mich … anders. Reiner. Unbekümmerter.«
    Sen lachte. »Wundert Sie das etwa? Man hat Ihnen einen Parasiten entfernt, ein Prion der Dummheit. Das schädlichste aller mentalen Viren.«
    »Irgendwie fühle ich mich freier. Unbeschwert trifft es vielleicht am besten.«
    »Ganz so ist es, Jacob. Und Sie werden sich an diesen Zustand gewöhnen. Sehr schnell. Wir haben festgestellt, dass unsere Versuchspersonen nur wenige Stunden brauchen, um sich anzupassen. Die Umstellung geht mit erstaunlicher Schnelligkeit vor sich – besonders wenn man bedenkt, wie komplex und gravierend dieser neurochirurgische Eingriff ist. Mr Fishwick ist ohne Übertreibung ein Genie. Deshalb bezahlen wir ihm auch ein Gehalt wie einem europäischen Fußballstar. Das entspricht zwar nicht gerade den marxistischen Grundsätzen, aber so ist es nun einmal! Der Zweck heiligt die Mittel.«
    Ein tibetischer Dorfbewohner mit einem Korb voll Wacholderholz ging an der Terrasse vorbei. Jake lächelte ihm zu, als er in seine Richtung blickte; der Mann nickte mit feudalzeitlicher Unterwürfigkeit, tippte mit der Fingerspitze an sein violettes Kopftuch und stieg auf einem schmalen Gebirgspfad zu den tiefer gelegenen Feldern hinab.
    Sen fuhr fort: »Unsere ersten Gehversuche, unsere ersten chirurgischen Fehlschläge, das waren – anders kann man es nicht bezeichnen – das waren … tragische Missgeschicke. Ich scheue mich nicht, das zuzugeben. Meine Frau hat sich freiwillig für eine solche Operation zur Verfügung gestellt, und ich konnte sie nicht davon abhalten, ebenso wenig wie meinen Schwiegersohn. Angesichts der primitiven Mittel und der rudimentären Kenntnisse, über die wir damals verfügten, war es wahrscheinlich vermessen, derart ambitionierte Eingriffe vorzunehmen. Aber wir waren, wie auch heute noch, überzeugte Kommunisten. Engagiert und hochmotiviert, Jacob – und um höchstmögliche Perfektion bemüht. Man kann kein Omelett für den Kaiser machen, ohne tausendjährige Eier zu zerbrechen. Ich habe mein Möglichstes getan, um denen, die dadurch zu Schaden gekommen sind, zu helfen. Ich habe Ponlok Arbeit beschafft. Viele unserer Wachen hier oben sind die bedauernswerten Opfer fehlgeschlagener Operationen. Aber das tragische Schicksal meiner Frau und Chemdas Vaters hat mich einmal mehr in meiner Entschlossenheit bestärkt, alles zu tun, um es perfekt hinzubekommen. Ich wusste, dass das Ziel all dieses Leid wert wäre. Und so haben wir im Lauf der Jahrzehnte durch beharrliches Ausprobieren dazugelernt und schließlich unser Ziel erreicht.«
    Jake machte einen Schritt nach vorn. Zögernd. Seine Aufmerksamkeit war gerade auf etwas anderes gerichtet, auf eine verlorene, eine unterdrückte Stimme, die ihm etwas sagen wollte.
    Er wandte sich von Sen ab und stieg von der Terrasse zu dem Pfad an ihrem Fuß hinunter. Ein paar Schritte weit folgte er dem Weg des Bauern, dann blieb er in der grellen Hochgebirgssonne stehen.
    Der Anblick, der sich ihm bot, war atemberaubend. Fast tausend Meter tief senkte sich ein schwindelnder Abgrund zu den terrassenförmig angelegten Häusern der Himmelsdörfer mit ihren glasierten Ziegeldächern hinab; dahinter schmiegten sich kleine Umfriedungen mit Jasminsträuchern und Aprikosenbäumen an die steilen Hänge; und dann die tiefen, scheinbar bodenlosen Schluchten. Schwarze, subtropische dreitausend Meter tiefer war schließlich eine völlig andere Welt. Und das alles umgeben von steilen Felswänden und tiefen Schluchten und hohen Berggipfeln. Vielleicht der schönste Ort, den Jake jemals gesehen hatte.
    Dennoch reagierte er ganz ruhig und emotionslos auf diese Pracht. Er wollte keine Fotos mehr machen. Er verspürte kein Bedürfnis mehr, die Schönheit oder die Schrecken der Welt festzuhalten und anderen zu vermitteln; die Welt war, wie sie war. Nicht so beängstigend. Berge und Sonne, Felswände und Rübenfelder. Barfüßige Frauen mit Kopftüchern, die im Dreck hockten und dicke Wurzeln aus der Erde zogen. Jake ließ das alles ziemlich kalt. Es ließ ihn total kalt.
    Es war ihm einfach

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