Bibel der Toten
sie fuhren, kannte die Straße möglicherweise sehr genau und wusste, wohin er ihre Verfolger locken musste: zu den Bomben.
Was es auch immer gewesen sein mochte – Glück oder eine List –, der Rauch und das Feuer waren jetzt weit hinter ihnen. Die Polizisten, die um das brennende Autowrack herumstanden, waren zwar noch zu sehen, aber sie waren winzig klein. Ihr Jeep kämpfte sich bereits in die Berge hinauf und ließ die Ebene der Tonkrüge hinter sich. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie waren Ausgestoßene, für immer auf der Flucht. Wenn Jake Gefahr, Abenteuer und Risiko suchte: Hier hatte er alles auf einmal.
Die Ebene verlor sich langsam immer mehr im Blau der Ferne. Die Szenerie hatte etwas eigenartig Friedliches, geradezu Idyllisches, als ob dieser Ort schon wesentlich schlimmere Zeiten erlebt hätte. Und diese Friedlichkeit war von paradoxer Schönheit. Jake hielt die Kamera in seinen schwitzenden Händen und machte ein Foto. Das die Sonne reflektierende Mosaik aus Reisfeldern spiegelte das tiefe Blau des Himmels; es strahlte wie die sauber ineinandergefügten Teile eines Glasfensters.
Woher war dieses Bild plötzlich gekommen? Aus seiner Vergangenheit. Das Glasfenster der Kirche, das blaue Gewand der Gottesmutter. Es war ein visuelles Echo aus seiner Kindheit: er und seine Mutter, in einer katholischen Kirche, wie er ihre Hand hielt und zu ihr hochschaute. Das ist die heilige Veronika, Jacob, und das dort ist der heilige Franziskus, und das ist das Blau der heiligen Lucia, Lucia-Blau .
Um die in ihm aufsteigende Traurigkeit zu vertreiben, machte Jake ein weiteres Foto. Die Rauchsäule war nur noch ein wehmütiger Strich, und dann war sie ganz verschwunden. Alles war blau, der Himmel, die spiegelnden Reisfelder, der wolkengefleckte Horizont.
Minutenlang sagte niemand ein Wort. Sie fuhren einfach weiter, durch winzige Ansiedlungen und menschenleere Wälder. Die Rückkehr in die ruhige Beschaulichkeit des ländlichen Laos war ein willkommener kleiner Tod. Sie kamen durch Dörfer, in denen die Mädchen Tennisbälle nach den jungen Burschen warfen, die Männer alle in Anzügen, die Mädchen in farbenprächtigen Kleidern. Der Jeep brauste weiter, hektisch und laut in der Stille der Wälder.
»Ein Balzritual«, erklärte Chemda. »An Neujahr singen die Jugendlichen und bewerfen sich mit Tennisbällen. So können sie Ehemänner … und Ehefrauen finden … ah, dieses blöde Telefon.«
Chemda versuchte gerade wieder einmal, mit ihrem Handy zu telefonieren. Aber sie schüttelte den Kopf. Aufgebracht. Verängstigt. Entschlossen. Kein Netz. Sie beugte sich zu Tou vor: »Wohin fahren wir? Wie kommen wir aus Laos raus? Wir müssen unbedingt das Land verlassen!«
Der junge Bursche drehte sich zu ihr um.
»Ja, ja, große Gefahr. Aber Yeng sagt, er hat Freunde. Wir fahren hin. Aber wir fahren viel Zeit, viel Zeit. Straßen sind schmutzig.«
Jake konnte sich gut denken, wer diese Freunde waren: Hmong-Kämpfer, Stammeskrieger, die sich in den unwegsamen Bergen versteckten, in Rebellenterritorium, das jeder staatlichen Kontrolle entzogen war. Er war schon oft genug in Regionen gewesen, in denen Recht und Gesetz keine Gültigkeit mehr hatten, um das Gefühl zu kennen, das damit unweigerlich einherging: dieser Kitzel der Grenzerfahrung, wenn man sich in Niemandsland begab, in dieses Zwischenreich, in dem die Gesetze der Zivilisation keine Gültigkeit mehr hatten.
Und an einem solchen Ort waren sie auch jetzt. Hier gab es keine Polizei. Und kein Gesetz. Nur endlos weite, undurchdringliche Wälder und Orchideen sowie Pilze und wilde Kamelien, die sich im Sonnenschein wiegten und in der Ferne dünne Wasserfallschnüre, die, vom Wind zerzaust, von den dunstverhangenen Gipfeln der hohen Kordillere stürzten.
Die Fahrt war lang und zermürbend. Hin und wieder kamen sie an Lichtungen vorbei, wo Hmong-Kinder, die Weidenkörbe mit frisch gespaltenem Brennholz trugen, staunend stehen blieben und deuteten. Was sie in dem Jeep sahen, schien eindeutig ihre Vorstellungskraft zu übersteigen.
Ein Junge starrte Jake mit offenem Mund an, glotzte erst nur fassungslos und begann dann zu lachen. Auch seine Mutter, die eine hölzerne Schubkarre mit langen Griffstangen schob, blieb stehen und stierte Jake verständnislos an, als hätte sie einen Außerirdischen vor sich.
Tou lachte unfroh. »Sie haben nie weiße mann gesehen. Wie Gott für sie. Oder Dämon.«
Eine graue Staubwolke kündigte ein entgegenkommendes Fahrzeug an. Wie
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