Bibel der Toten
sich herausstellte, war es ein Militär-Lkw, auf dessen Ladefläche Soldaten in khakifarbenen Uniformen saßen. Die Angst im Innern des Jeeps verdichtete sich. Niemand sprach ein Wort. Was waren das für Truppen? Die Soldaten beäugten sie jedoch nur desinteressiert, halb neugierig, halb gelangweilt. Vielleicht auch müde. Der apathische Blick von Wehrpflichtigen war auf der ganzen Welt gleich.
Sonst passierte nichts. Der Militärlaster verschwand. Der Weg führte die Hänge hinauf, wand sich um Berge, schlängelte sich immer weiter nach oben in schwindelnde Höhen. Die ersten Anzeichen von Dunst und Nebel zeigten sich, scheue Kentauren und Einhörner, die hastig flohen, sobald sie näher kamen.
Das Licht schwand; die Nacht brach herein. Wie lang waren sie schon unterwegs? Chemda döste vor sich hin, ihr Kopf schlug immer wieder gegen das Seitenfenster. Jake hätte liebend gern angehalten, um auszusteigen, zu pinkeln, einfach mal stehen zu bleiben. Aber konnten sie das riskieren? Vielleicht war die Polizei nur wenige Kilometer hinter ihnen. Vielleicht kamen sie immer näher.
Aber irgendwann mussten sie anhalten – also hielten sie an. Ganz kurz. Mitten im Dunkel des Dschungels. Inzwischen war es endgültig Nacht geworden, und kalt war es hier oben in den Bergen. Jake ging ein paar Meter in die klamme Dunkelheit des Walds hinein, aus dem ihm ein Konzert nächtlicher Geräusche entgegenschallte. Das Quaken von Fröschen. Das Zirpen und Sirren und Summen unzähliger Insekten. In der Ferne schauriges Geheul. Jake musste an die Wildkatzen und die seltsamen Dschungelhunde denken, die er auf dem Markt in Phonsavan gesehen hatte.
Er pinkelte. Versuchte, nichts damit zu assoziieren: das viele Blut, das Blut auf den Schnauzen der geschlachteten Dschungelhunde, das Blut auf dem Fußboden des Hotelzimmers, der Mann mit der durchgeschnittenen Kehle, wie ein koscheres Lamm zum Ausbluten an den Füßen aufgehängt. Wahrscheinlich von der Polizei. Aber warum? Und weshalb diese Grausamkeit? Sollte es wirklich nur dem Zweck gedient haben, ihnen Angst zu machen? Ein Mord war doch schon beängstigend genug.
Jake schauderte. Trotz seines überzeugten und wütenden Atheismus konnte er manchmal den Tod nahen spüren wie einen schwarzen Gott, einen Gott, an den er nicht glaubte, der ihn aber dennoch hasste. Deine Mutter und deine Schwester gehören mir schon. Du bist als Nächster dran.
Am Himmel über ihnen hing einsam der Mond. Im Unterholz funkelten Glühwürmchen, blau und grün wie scheue kleine Sterne aus Eis.
Jake ging zum Auto zurück. Als sie wieder losfuhren, ließ Chemda sich sehr ausführlich über die Vorgeschichte des Landes aus und stellte Vermutungen zu den Überresten an, die sie in den Krügen gefunden hatten. Erstaunt wurde Jake bewusst, dass er die ganze Zeit nicht mehr daran gedacht hatte. Angesichts der Dramatik der letzten Stunden hatte er das verstörende Bild einfach ausgeblendet: die in den Krügen aufbewahrten Schädel. Die traurigen alten Gebeine. Vorwurfsvoll. Du hast uns zurückgelassen.
Nein. Er riss sich zusammen.
Nein.
Chemda sprach über die Weissagungen der alten Khmer.
»Wenn die Menschen in den Krügen, die Menschen, die diese Krüge gemacht haben, wenn sie Khmer waren … dann handelte es sich womöglich um Schwarze Khmer.«
»Und was sind Schwarze Khmer?«
»Die Schwarzen Khmer waren ein verfluchtes Volk. In den Khmer-Überlieferungen gibt es Andeutungen, dass die ersten Khmer eine schreckliche Rasse waren … nein, das trifft es nicht wirklich … eher, dass sie einen schrecklichen Fehler gemacht haben. Sie haben Gott verloren. Und den Glauben. Und sie wurden sehr gewalttätig. Wie lautet diese Prophezeiung gleich noch mal? Tou hat sie mal erwähnt.«
Die Scheinwerfer des Jeeps kämpften gegen die Dunkelheit und den Dunst des Bergwalds an. Und dann erinnerte sich Chemda wieder an den genauen Wortlaut.
»Eine große Dunkelheit wird sich über das Volk von Kambodscha legen. Da werden Häuser sein, aber keine Menschen darin; Straßen, aber keine Reisenden; das Land wird von Barbaren ohne Religion beherrscht werden; das Blut wird so hoch stehen, dass es den Bauch des Elefanten berührt. Nur die Tauben und die Stummen werden überleben.«
Tou und Yeng schwiegen. Jake nickte. Er glaubte nicht an Prophezeiungen, er glaubte nicht an Legenden, er glaubte nicht – ganz sicher glaubte er nicht an irgendeine Art von Gott; denn welcher brutale Gott könnte all die Gräuel auf der Welt zulassen?
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