Bibel der Toten
Die Roten Khmer? Den Tod all dieser Kinder? Seiner Schwester? Doch die Schädel in dem Krug, sie waren eindeutig real; er hatte sie gesehen, die Schädel mit den Löchern in der Stirn.
Warum?
Chemdas Worte waren wie das Echo seiner Gedanken.
»Da könnte durchaus ein Zusammenhang bestehen. Was ist vor zweitausend Jahren in der Ebene der Tonkrüge passiert? Was mit den Schwarzen Khmer? Vielleicht haben sie ihren Göttern irgendetwas Schreckliches angetan – oder ihrem eigenen Volk. Das ist die Prophezeiung. Vielleicht haben diese Schädel etwas damit zu tun, dass sie verflucht wurden. Ja. Vielleicht können sie uns helfen, diese alten Legenden besser zu verstehen.«
»Das alles erinnert ein wenig an die Geschichte von der Sintflut, mit der Gott die Menschen zur Strafe für ihre Verfehlungen ausgelöscht hat.«
»Zum Teil ja«, sagte Chemda. »Aber auch nein. Und ich weiß immer noch nicht, warum das Doktor Samnang in solche Panik versetzt hat.«
Jake wandte sich von Chemda ab und schaute aus dem Autofenster, hinter dem nichts zu erkennen war. Dort draußen war es kalt, dunkel und gruselig – ekelerregend. Der Dschungel schauderte.
Wo sollten sie hier schlafen? Würden sie überhaupt schlafen können? Unirdisch schwarze Dunkelheit hatte sich über sie gebreitet, durchbrochen nur von den schwachen Lichtkegeln der Autoscheinwerfer. Wieder einmal wurde Schlamm unter ihren Reifen hochgeschleudert, der Geländewagen geriet ins Schaukeln. Die Glühwürmchen funkelten. Über ihnen schien still und verträumt der Mond. Der Dschungel gähnte und schmatzte. Der Schlamm verschlang sie immer mehr. Und endlich schlief Jake ein.
Er träumte von einem Mann, der einen Tennisball warf. Ein großer, dunkler Mann. Ein kleines Mädchen hob den Ball auf. Ihr Gesicht war von einem leuchtenden, dunkelroten Muttermal verunstaltet.
Jake erwachte mit schmerzhaftem Erschrecken. Tou rüttelte ihn wach.
Wie lang hatte er geschlafen? Der Tag brach an. Sie befanden sich an der Abbruchkante eines Canyons. Vor ihnen lag ein langes, von Nebel durchzogenes Tal, das zu einer großen ebenen Fläche mit einer Art Flugplatz und einer kleinen Gruppe von Bauten führte: niedrige Hütten aus Beton und Stahl, baufällig und alt. Und dazwischen verfallene, unkrautüberwucherte Straßen – so sah es jedenfalls aus der Ferne aus.
»Die verborgene Stadt«, sagte Tou.
Sie hatten den amerikanischen Flugplatz erreicht, den in den Bergen versteckten Stützpunkt aus den Zeiten des Vietnamkriegs. Die Verborgene Stadt des Kriegs der Ravens, aus der die hartnäckig dementierten amerikanischen Bomber zu ihren geheimen Einsätzen gestartet waren, um ihre goldenen Bomblets auf die Menschen der Ebene abzuwerfen.
Jake gähnte. Ihm war leicht übel. Lag es an seiner Desorientierung oder an der Höhenluft? Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und stieg aus dem Auto. Tou reichte ihm eine Flasche kaltes Wasser.
Jake trank in gierigen Schlucken. Sie waren ihren Verfolgern entkommen – vorerst –, aber was jetzt? Wo war eigentlich Yeng? Und Chemda?
Da. Ein Stück die Straße hinunter, im sich lichtenden Nebel zwischen ein paar Behausungen, konnte er eine Gruppe von Hmongmännern sehen: junge Männer mit Pistolen und Gewehren und banditenhaft um die Schultern geschlungenen Patronengurten. Hmong-Rebellen. Und mitten unter ihnen war Chemda, zierlich, aber voller Energie redete sie eindringlich gestikulierend auf sie ein.
Dieses Mädchen. Sie hatte Mumm und Schneid und Courage. Wieder spürte Jake das Aufkeimen tiefer Bewunderung, begleitet von unverhohlenem Begehren. Sie war richtig tough. Eine toughe, zu allem entschlossene Khmer-Prinzessin. Einhundertsiebenundfünfzig Zentimeter geballter königlicher Energie. Ihre Vorfahren, vermutete Jake, wären stolz auf sie gewesen.
Tou schüttelte den Kopf, als wäre etwas Schlimmes passiert.
»Was ist?«
»Chemda ruft wieder ihren Großvater an. Er sagt, sie müssen nach Luang. Nur dort sicher.« Tou deutete auf den fernen Flugplatz. »Gestreifte Hmong haben Flugzeug. Wir können Sie bringen nach Luang, samesame, kein Problem.«
»Endlich eine gute Nachricht – oder etwa nicht?«
Tou schüttelte den Kopf. »Chemda weint fast. Nicht wirklich, aber fast. Traurig.«
»Warum?«
»Menschen hier kennen ihr Gesicht, und sie kennen Großvaters Name. Sie erzählen alles.« Tou blickte verlegen auf seine zerschlissenen, verdreckten Turnschuhe hinab. Jake beschloss, sich bei dem Jungen zu bedanken, dass er ihnen das Leben
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