Bibel der Toten
kannten. Sie waren gleich alt. Anscheinend waren sie seit Jahrzehnten befreundet. Annika arbeitete schon seit den siebziger Jahren in ganz Frankreich mit dem seltsamen Ghislain zusammen. Und jetzt auch in Lozère.
Julia beugte sich vor.
»Annika, dürfte ich dir eine sehr persönliche Frage stellen?«
Die ältere Frau zuckte beiläufig mit den Achseln und zog sich ihre graue Kaschmirjacke fester um die Schultern. »Aber natürlich. Du hast mir dein ganzes Leben erzählt! Da wirst du mich wohl auch nach meinem fragen dürfen.«
»Warst du und Ghislain … wart ihr …«
»Ein Paar? Ja.«
»In Paris?«
»Ja, 1969. Wir hatten dieselben politischen Ideale. Wir haben beide an der Sorbonne studiert. Wir haben gemeinsam mit dem Maoismus Bekanntschaft gemacht! Wir sind Anfang der siebziger Jahre sogar gemeinsam nach China gefahren. Deshalb der grüne Tee, Julia.« Annika spitzte die etwas zu dick geschminkten Lippen, um einen Schluck von der heißen Flüssigkeit zu nehmen, dann stellte sie die henkellose Tasse wieder ab.
»Und?«
»Du darfst ihm sein Verhalten nicht übel nehmen, Julia. So ist er einfach. Er hat seine … Ideale, auch jetzt noch. Ideale, die ihn hierher geführt haben. Genau wie mich. Es hat einmal eine Zeit gegeben, in der wir sowohl Ideale als auch Küsse miteinander geteilt haben, und wir haben uns beide für die Höhlen interessiert. Für die Vorgeschichte der Menschheit. Für die Archäologie.«
Die zwei Frauen schauten gleichzeitig zu den Bildern an der Wand hoch, zu den Löwen von Chauvet.
»Jetzt sind wir natürlich nicht mehr zusammen. Jetzt tauschen wir keine Küsse mehr.« Annikas Lächeln war kurz und etwas bitter. »Aber wir sind noch miteinander befreundet. Gewissermaßen. Ich werde ihn nicht im Stich lassen. Er ist ein bedauernswerter, innerlich zutiefst zerrissener Mann. Und dann hat er natürlich noch an seinem Familiennamen zu tragen.«
Julia sah Annika verständnislos an.
»Warum nimmt er meinen Fund nicht ernst?«
»Wie kommst du darauf, er könnte ihn nicht ernst nehmen?«
»Na ja, wie der mich abgefertigt hat! Er hat mich einfach rausgeworfen!«
Annika sah Julia mit zusammengekniffenen Augen an, dann blickte sie aus dem Fenster, wo der Wind zwischen den einsamen Menhiren umherirrte und seine Witwerschaft beklagte. »Das hat er bestimmt nicht grundlos getan.«
»Aber warum?«
»Überleg doch mal, Julia.« Die alte Archäologin sah ihre junge Freundin und Kollegin eine Weile forschend an. »Dir ist doch klar, dass er sich von dir angezogen fühlt, oder?«
»Wie bitte?«
Annika seufzte geduldig. »Er mag dir vielleicht alt und wunderlich erscheinen, aber er hat eine ausgeprägte Schwäche für Schönheit.« Annikas Lächeln war traurig. »Besonders für jugendliche Schönheit … Ich kenne ihn, Julia, mir ist nicht entgangen, wie er reagiert hat, als er dich zum ersten Mal gesehen hat. Und du hast gar nichts davon mitbekommen?« Ein Kopfschütteln. »Du bist eine dieser Frauen, Julia, wenn ich das mal so sagen darf, die sich der Wirkung, die sie auf Männer haben, nicht bewusst sind. So ist es doch, oder? Hm? Aber deine blauen Augen und die blonden Haare, die blonden Haare, die du immer nach hinten gebunden trägst …«
»Nein. Annika, jetzt hör auf. Das ist doch vollkommen lächerlich. Nein.« Julia errötete heftig. Und doch setzte sich plötzlich ein Gedanke in ihr fest. Die Art, wie Ghislain sich ihr dort unten in der Höhle genähert hatte, wie ein Angreifer, wie ein Mann, der es darauf abgesehen hatte … Nein, schalt sie sich selbst, das war doch lächerlich. Nicht alle Männer waren so.
Sie beugte sich vor, suchte nach Antworten.
»Selbst wenn es stimmen sollte, Annika, was hat das hiermit zu tun? Was hat das mit meiner Entlassung zu tun, kannst du mir das vielleicht sagen?«
»Was ich dir klarzumachen versuche, ist, dass er dich … gemocht hat.« Sie hob die Hand. »Nein, bitte. Das ist wirklich so. Aber er ist auch sehr professionell in allem, was er tut. Er schätzt dich auch als Archäologin. Nur deshalb hat er dir die Stelle gegeben. Und aus all diesen Gründen würde er dich nicht so kurzerhand entlassen. Nein, auf keinen Fall.«
Das Ganze wurde immer verworrener. »Aber warum hat er es dann getan?«
»Vielleicht nimmt er deinen Fund sehr ernst. Zu ernst. Und vergiss nicht, er ist innerlich zerrissen. In Ghislains Vergangenheit gibt es viele Geheimnisse. Aber es steht mir nicht zu, sie preiszugeben. Du darfst das jedenfalls unter keinen Umständen
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