Bibel der Toten
Fahrer einzureden. Sie trieb ihn zur Eile an.
Jake bezweifelte, dass der alte Yeng eine dieser Sprachen verstand. Er sprach nur Hmong. Aber der Sinn war klar.
Los. Schneller. Bitte.
Aber egal, wie schnell sie fuhren, die Geräusche hinter ihnen ließen keinen Zweifel daran, dass ihr Vorsprung immer weiter schrumpfte. Das Röhren der großen Polizei-Toyotas übertönte das Brummen ihres eigenen schnaufenden Gefährts.
»Schneller!«, stieß Jake hilflos hervor. Ihm schossen Bilder des blutüberströmten alten Kambodschaners durch den Kopf. Kann das wirklich die Polizei gewesen sein? Warum nicht? Wer sonst? Vielleicht der grimmige dünne Polizist aus Phonsavan. Jake konnte sich gut vorstellen, dass der kurzerhand einen Hals aufschlitzte wie die Schlagadern eines aufgehängten Schweins und dann beobachtete, wie das blubbernde Blut aus der klaffenden Wunde quoll. Und am Ende zufrieden nickte. Fall erledigt.
Der Jeep beschleunigte verzweifelt.
Sie hatten gar keine andere Wahl, als zu fliehen. Selbst wenn sie sich der Polizei von Phonsavan stellten und Chemda erneut ihren Großvater einschaltete – und wer konnte schon mit Sicherheit sagen, dass es ein zweites Mal funktionieren würde; Jake war sich sogar sicher, dass dies nicht der Fall wäre –, es hätte bedeutet, dass sie Tou der Polizei auslieferten, die ihn dann sicher verprügeln und einsperren und wegen Mordes verurteilen, vielleicht sogar hinrichten würde. Und was würden diese brutalen Polizisten erst mit dem alten Yeng anstellen? Einem der aufrührerischen Hmongs?
Doch ihr Jeep war alt, kurzatmig und rostig; die Polizei-SUVs waren zwar schmutzig, aber neu und schnell.
Yeng rang mit dem Lenkrad, als er sie an den niedrigen weichen Erdwällen der Reisfelder entlang- und unter den klatschenden Zweigen von Eichen, Bambussen und glänzenden Immergrüns hindurchsteuerte; wenn der Weg verschlammt war, heulte der Jeep mit durchdrehenden Rädern wütend auf, um sofort weiterzurasen, sobald er wieder auf festen Untergrund kam – hochtourig, verzweifelt und Schmutz aufwirbelnd. Aber die neuen Geländewagen kamen unaufhaltsam näher. Es war unvermeidlich. Nicht mehr lange und sie würden eingeholt.
Jake fluchte; Tou schrie; Yeng stieg aufs Gas. Jake musste an den dünnen Polizisten denken, an seinen kaum unterdrückten Hass. Wahrscheinlich wäre es ihm sogar eine besondere Genugtuung …
Eine Explosion aus jähem Gold erblühte.
Abrupt klatschte eine gewaltige Druckwelle Schlamm, Wasser und Laub gegen die Windschutzscheibe; der Jeep neigte sich nach links, immer weiter, kippte fast um; doch dann fanden die Räder auf der Fahrerseite wieder Halt und katapultierten das Fahrzeug nach vorn, zurück auf ebenen Untergrund, und sie rasten weiter.
Unverletzt?
Rauch. Hinter ihnen war Rauch. Und lodernde Flammen aus Schwarz, Orange und quellendem Grau. Jakes erster Gedanke war: eine Bombe, ein Blindgänger. Höchstwahrscheinlich waren die Autos hinter ihnen auf irgendeine UXO gefahren. Jake blickte sich um und sah mehrere Männer aus einem brennenden Geländewagen kriechen, schreiende Männer, die brannten wie Fackeln.
Tou juchzte.
Jake beobachtete das Schauspiel mit wachsendem Entsetzen.
»Anhalten.« Er packte Tou an der Schulter. »Anhalten! Sie brauchen vielleicht Hilfe …«
»Nein!«, stieß Tou hervor. »Verrückt! Sie bringen uns um. Sie bringen Samnang um, sie bringen Sie und Chemda um, wir müssen weiterfahren …«
Chemda sah Jake an. »Er hat recht. Wir dürfen nicht anhalten.«
»Aber … aber, um Himmels willen …«
»Nein. Nein, nein, nein! Wir fahren weg!«, schrie Tou. »Jetzt können wir entkommen!«
Es stimmte. Die Polizeiautos waren durch den Unfall des ersten Fahrzeugs der Kolonne aufgehalten worden. Die Polizisten saßen im Rauch und im Schlamm fest. Das hieß, sie waren von einer amerikanischen Bombe gerettet worden, die unter den Magnolienbäumen versteckt gelegen hatte.
»Entkommen. Wir entkommen.«
Wir entkommen.
Jake konnte das alles noch gar nicht fassen. Ihr klappriger Jeep holperte an Reisfeldern entlang, mühte sich eine Steigung hinauf, immer weiter fort vom Ort des Unglücks. Sie entkamen tatsächlich – und vielleicht war es gar kein Unfall gewesen und auch nicht unglaubliches Glück. Jake schaute verstohlen zu Yeng hinüber. Der alte Hmong war mit allen Wassern gewaschen. Er kannte sich aus in den Bergen, in den Wäldern und Reisfeldern. Er war ein Gestreifter Hmong. Ein Hmong-Bai. Er hatte von Anfang an gewusst, wohin
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