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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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noch bei Annika stand. Und jetzt hatte sie keine Lust mehr auf die lange und möglicherweise auch teure Fahrt zurück auf die Cham. Sie beschloss, in Mende zu bleiben und in ihrer Wohnung zu schlafen. Vielleicht konnte Alex sie am nächsten Morgen mitnehmen. Er würde Annika bestimmt besuchen wollen. Um sie zu trösten.
    Julia war froh, hier im Krankenhaus unter Menschen zu sein. Eigentlich war ihr nicht danach, allein in ihre leere Wohnung zu gehen, jedenfalls nicht sofort, nicht in ihrer momentanen Verfassung. Der bestialische Mord setzte ihr gewaltig zu. Seine blindwütige Brutalität hatte etwas zutiefst Beunruhigendes. Julia merkte, dass ihre Hand zitterte, als sie nach dem weißen Plastikbecher griff, den Rouvier ihr reichte.
    Sie nippte an ihrem Kaffee.
    »Sie haben recht. Er schmeckt abscheulich.«
    »Ein richtiges Wunder, non ? So schlechten Kaffee zustande zu bringen, ist wirklich eine Leistung.«
    »Und idiotisch heiß ist er auch noch.«
    Der französische Polizist nickte grinsend. Ihr fiel auf, dass er sehr gepflegte Hände hatte. Überhaupt gefiel ihr Rouvier. Er erinnerte sie an ihren Vater – an ihren Vater, wenn er sich von seiner besten Seite zeigte: einfühlsam, klug, aufmerksam.
    Sie beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, dem Gendarm ein paar Fragen zu stellen. Julias Wissenschaftlerverstand konnte es kaum erwarten, wieder die Oberhand zu gewinnen und ihre überhitzten Emotionen in den Griff zu bekommen. Die Trauer, die Angst und die schrecklichen Erinnerungen in die Schranken zu weisen. Ghislains geschundener Körper ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie hatte schluchzend im Auto gesessen, als ihr Vater sie in Sarnia abgeholt und nach Hause gefahren hatte.
    Sie brachte rasch wieder Ordnung in ihre Gedanken und fragte Rouvier: »Haben Sie schon irgendeine Theorie? Oder einen Verdächtigen?«
    Der Polizist schüttelte den Kopf und blies auf seinen Kaffee.
    »Nein. Aber ein paar Anhaltspunkte haben wir. Die Verteilung der Messerstiche ist zum Beispiel interessant. Er hat auffallend viele Schnitte an Händen und Fingern.«
    »Ja, das habe ich gesehen.«
    »Aus der Anordnung der Schnitte geht hervor, dass er die Arme nach oben genommen hat. Um sich zu schützen.«
    »Um sich zu schützen?«
    »Möglicherweise hat der Mörder mit dem Messer auf seinen Kopf einzustechen versucht. Vermuten wir jedenfalls. Und zwar vor allem auf die Stirn oder die Augen. In so einem Fall reißt man ganz automatisch die Hände hoch.«
    Es war eine schreckliche Vorstellung.
    »Woher wissen Sie, dass es nur ein Täter war?«
    »Das lässt sich bisher noch nicht sagen. Allerdings vermute ich es. Nur so ein Gefühl. Und ich glaube nicht, dass ich mich da täusche. Ein großer, kräftiger Mann, der ziemlich wütend auf das Opfer gewesen sein muss. Und dann ist ihm eine Sicherung durchgebrannt. Ja, ich glaube, das trifft es ganz gut. Dem Täter ist eine Sicherung durchgebrannt.«
    »Wer hat die Leiche gefunden?«
    »Eine Nachbarin. Soviel ich weiß, hat sie einen schweren Schock erlitten.«
    »Kein Wunder. Unfassbar. Einfach unfassbar.« Julia trank mit gierigen Schlucken; der Kaffee war inzwischen abgekühlt, und der bittere Geschmack tat ihr gut. »Und? Haben Sie schon irgendwelche Theorien, was das Motiv angeht? Hatte Ghislain Feinde?«
    »Ein Motiv?« Halb lächelte Rouvier, halb wich er ihrem Blick aus. »Nein. Ja. Nein. Ein Mann ohne nahe Angehörige? Keine Freundin. Keine Rivalen in seinem begrenzten Fachgebiet. Aber ein Mann mit einem berühmten Namen.«
    »Berühmt?«
    »Na ja, vielleicht nicht gerade berühmt. Aber doch relativ bekannt.« Rouvier zerdrückte den Plastikbecher in seiner Hand und warf ihn aus einiger Entfernung in einen Abfalleimer; er lächelte über seine Zielgenauigkeit. Dann wurde er wieder ernst und drehte sich zu Julia. »Ich kannte Ghislain Quoinelles. Möglicherweise empfand er seinen Familiennamen als Belastung.«
    »Inwiefern?«
    »Sein Großvater war ein berühmter Wissenschaftler.« Wieder ein Achselzucken. Rouvier schien gehen zu wollen. »Viel mehr kann ich Ihnen dazu leider auch nicht sagen. Aber ich habe mich oft gefragt, warum er ausgerechnet nach Lozère gekommen ist, hier runter in den Süden, in die tiefste Provinz. In Frankreich kann ein berühmter Name enorme Vorteile mit sich bringen. Wir sollten eigentlich eine Meritokratie sein, die glorreiche Republik! Aber énarques stammen von énarques ab. Die Söhne kleiner Ungarn im Élysée leiten mit dreiundzwanzig Jahren La Défense.

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