Bibel der Toten
am meisten fürchtete.
Sein Abscheu mischte sich mit aufgebrachter Neugier. Er machte einen Schritt auf das Ding zu. Und im selben Moment begann sein Magen von der Galle bestätigten Ekels heftig zu rumoren.
Es war kein Affe. Es war eindeutig kein Tier.
Es war ein menschlicher Embryo.
Am Türhaken hing ein menschlicher Fetus. Getrocknet oder mumifiziert.
Und der Fetus starrte ihn aus milchig weißen Augen ausdruckslos an.
Ein Schrei ertönte.
Aber Jake starrte nur weiter dieses Ding an, das an seiner Nabelschnur an der Tür hing.
Der Schrei drang nicht zu ihm durch; er nahm ihn genauso wenig wahr wie die Alarmanlage eines fernen Autos. Er war vollkommen gebannt von diesen Augen, totenstarr und nach oben verdreht, wie die seiner kleinen Schwester. Nein, fang gar nicht erst an, in diesen Bahnen zu denken. Aber er konnte nicht anders. Langsam schlüpfte er in Hemd und Jeans und starrte dabei die ganze Zeit auf das Baby, auf den toten Fetus, auf die grausig weißen starren Augen, die genauso aussahen wie die seiner Schwester, als sie leblos auf der Straße gelegen hatte. Und erst dann drang all mählich in sein Bewusstsein, dass es Chemda war, die geschrien hatte.
Chemda!
Er riss die Tür auf. Der Schrei hallte immer noch laut in seinen Ohren – ihr Zimmer war neben seinem. Er stürmte durch die Tür, sah sie auf dem Bett sitzen, keuchend und nach Luft schnappend, das Gesicht schreckverzerrt. Und sie deutete auf etwas, sprachlos vor Entsetzen.
Er musste nicht lange raten, was es war. An einem Deckenbalken des Zimmers hing, an seiner Nabelschnur, ein weiterer Fetus.
»Chemda. Komm …«
Sie war nackt, nur in ein Laken gehüllt. Sie rührte sich nicht von der Stelle.
»Chemda. Bitte komm. Schnell!«
Er ging zu ihr, ergriff ihre feuchte Hand; ihr Blick ging durch ihn hindurch, auf etwas hinter ihm, auf einen erschreckenden Horizont. Dann kehrte endlich Klarheit in ihre Augen zurück, und sie nickte konsterniert. Sie schlüpfte rasch in ein Kleid, und er wandte sich kurz ab. Sie wollten das Zimmer gerade verlassen, als ein Zimmermädchen hereinkam; auch das Zimmermädchen schrie entsetzt auf. Ihr Schrei hatte etwas verstörend Existenzielles, als spürte sie das Nahen ihres eigenen Todes. Mit seiner in einem Gummihandschuh steckenden Hand deutete das Zimmermädchen schlaff auf den baumelnden Fetus; ihr Mopp war zu Boden gefallen. Dann schrie sie noch einmal. Wie eine wild gewordene Hupe. Schrill und durchdringend.
Jake wusste nicht, was er als Erstes tun sollte: Chemda in Sicherheit bringen oder das hysterische Zimmermädchen beruhigen. Er packte Chemdas Hand und floh mit ihr in den Garten.
Sie brauchten über eine Stunde, um sich halbwegs zu beruhigen. Madame Marconnet brachte ihnen Tee und eine Decke, und das Zimmermädchen blieb in ihrer Nähe. Sie war immer noch völlig aufgelöst, strich fortwährend ihre schmutzige Schürze glatt, und ihre kleinen Hände zitterten heftig. Chemda saß neben Jake und starrte wie weggetreten auf den Fluss, die Boote, die Algennetze und die singenden Fischer. Sie sagte sehr, sehr lange nichts. Irgendwann, endlich, begann sie zu sprechen:
»Talismane.« Ihre Stimme kam von ganz weit hinten aus ihrer Kehle. »Es sind Talismane.«
»Was?«
»Auf Khmer heißen sie koh krohen – oder kun krak .«
Dann verfiel sie wieder in Schweigen.
Inzwischen waren sie allein in dem abgeschiedenen Garten am Flussufer. Madame Marconnet hatte sich ins Hotel zurückgezogen, und das Personal war endlich wieder an die Arbeit gegangen – in den Zimmern aufräumen, diese schrecklichen Dinger wegmachen.
Der Garten, wurde Jake erst jetzt allmählich bewusst, war sehr idyllisch. Vor ihm vereinte sich das vollmilchschokoladenfarbene Wasser des Mekong mit dem bitterschokoladenfarbenen Wasser des Nam Khan. Aber das Einzige, woran Jake denken konnte, waren diese grässlichen trüben Augen, so kalt und tot und starr. Die Blätter der Tamarinden raschelten sanft, aber Chemda zitterte immer noch am ganzen Körper.
Er musste es wissen.
»Talismane also. Und was für Talismane?«
Sie drehte sich zu ihm; ihr war anzusehen, dass sie Mühe hatte, einigermaßen ruhig zu bleiben. »Für dich hört es sich wahrscheinlich vollkommen verrückt an. Aber als Erstes musst du wissen, dass die Khmer extrem abergläubisch sind. Ja. Du kennst doch sicher die kleinen Geisterhäuser, die man überall in Kambodscha sieht – die neak ta . Sie dienen dazu, böse Geister einzufangen. Oder die heiligen Tattoos der
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