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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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Leichenschauhauses hinuntergingen, war hektisch und angespannt, aber geflüstert, als ob sie in einer Kirche wären. Unwillkürlich fragte sich Julia, warum die Menschen in Gegenwart des Todes immer flüsterten. Die Toten, dachte sie, konnten doch nichts mehr hören.
    Eine breite Tür öffnete sich automatisch. Ein Mann mit hellblauen Gummihandschuhen kam auf sie zu. Er lächelte Rouvier kurz an, sah in die anderen Gesichter und studierte vor allem das von Annika aufmerksam. Sie nickte.
    Er deutete: da lang.
    Dann ging alles sehr schnell. Julia hatte mehr Brimborium erwartet, ein paar einführende Worte, irgendwelche ehrfürchtigen rituellen Waschungen. Aber nichts als forsche, an Gefühlskälte grenzende Effizienz. Zu viert defilierten sie durch einen großen, extrem hell beleuchteten Raum voller Bahren; unter Plastikdecken zeichneten sich die vagen Umrisse menschlicher Körper ab – die schlafenden Toten, alle geduldig wartend.
    Schließlich blieben sie an einer Bahre stehen und hielten nur ganz kurz inne, bevor der Arzt die Plastikabdeckung zum Hals des Toten hinabzog.
    Es war Ghislains Gesicht. Es wirkte beinahe friedlich. Die Augen waren geschlossen, und nur an der Nase klebte etwas Blut. Seine Haut war gespenstisch bleich, aber die mit dem Tod einhergehende Erschlaffung verlieh dem alten Professor eigenartigerweise ein jugendlicheres Aussehen. Nichts mehr von der krampfig gockelhaften Aufgeblasenheit. Die lächerliche Frisur war zerzaust, wie das Haar eines jungen Mannes, sympathisch ungekämmt. So sah es eindeutig besser aus.
    Wie bedauerlich, wie jammerschade. Über Julia brach eine alles mit sich reißende Woge aus Trauer und Schmerz herein. Sie kämpfte tapfer dagegen an und bekam ihre Gefühle schließlich wieder unter Kontrolle. Der arme Ghislain. Warum hatte er sterben müssen? Und wie war er gestorben? Von wessen Hand?
    »Oui. C’est lui.« Das kam von Annika; sie hatte le corps identifiziert. Der Arzt wollte die Decke bereits wieder hochziehen, aber Annika packte sein Handgelenk und hielt ihn zurück.
    »Non, laissez-moi voir …«
    Sie wollte den Rest der Leiche sehen. Der Arzt warf Rouvier einen fragenden Blick zu. Zunächst zögerte der Polizist, dann nickte er diskret.
    Der Arzt zog die Decke ganz nach unten.
    Sie wichen alle zurück. Sogar die zwei Männer, die den Toten bereits gesehen haben mussten.
    Ghislain war buchstäblich zerfleischt worden. Anders konnte man es nicht bezeichnen. Der Täter musste in einem regelrechten Blutrausch auf ihn eingehackt und -gestochen haben. Die Plastikplane, auf der er lag, war voll Blut; sein Körper war so übel zugerichtet, dass er aussah, als wäre er rundum mit tiefviolettem Rot tätowiert worden.
    Wer auch immer Ghislain ermordet hatte, war dabei mit einer unbändigen, geradezu lustvollen Vernichtungswut vorgegangen. Er hatte seinem Opfer Arme und Beine zerschnitten und ein Messer in den Unterleib gerammt – und es dann nach allen Seiten gerissen. Eine Tat von bestialischer Brutalität. Ekelerregend und obszön.
    Julia war so damit beschäftigt, diese schrecklichen Eindrücke zu verarbeiten, dass sie zunächst gar nicht auf Annika achtete.
    Leise, aber herzzerreißend schluchzend verbarg die alte Archäologin das Gesicht in ihren Händen. Rouvier winkte seinem jungen Kollegen und trug ihm auf Französisch auf, Annika nach Hause zu fahren. Daraufhin nahm der junge Polizist Julias Freundin behutsam am Arm und führte sie nach draußen. Der Arzt tat seine Pflicht und schob die grausam entstellte Leiche von Professor Ghislain Quoinelles fort.
    Dann waren Rouvier und Julia allein im Raum. Der französische Polizist seufzte.
    »Was für ein grauenhafter Ort. Mir geht dauernd durch den Kopf, dass ich eines Tages auch hierher gebracht werde und dann nicht wieder weggehen kann. Aber heute ist es Gott sei Dank noch nicht so weit.«
    Sie fuhren mit dem Aufzug nach oben. Rouvier war inzwischen geradezu redselig. Am Eingang des Krankenhauses, unter dessen gläsernem Vordach sich ein paar Patienten in Bademänteln die Mitternachtsstunden mit Rauchen vertrieben, blieb er stehen.
    »Dort drüben ist ein Kaffeeautomat. Der Kaffee ist eigentlich ungenießbar, aber trotzdem brauche ich jetzt dringend einen. Wie sieht es mit Ihnen aus?«
    »Ja, gern. Meinen bitte schwarz.«
    Rouvier fischte ein paar Münzen aus seiner Hosentasche und entfernte sich.
    Julia atmete in tiefen Zügen die regnerische Nachtluft ein. In der Aufregung hatte sie nicht mehr an ihr Auto gedacht, das

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