Bibel der Toten
Gangster, die Kugeln abwehren sollen.«
Jake nickte. Er hatte schon viele der kleinen, etwas unheimlichen Schreine gesehen. Und die tätowierten Gangster mit ihren geweihten Amuletten waren nicht aus dem Straßenbild Phnom Penhs wegzudenken.
»Das ist mir durchaus klar. Aber warum hier, warum wir? Warum hat uns jemand diese Dinger ins Zimmer gehängt?«
»Der Geisterglaube ist tief in meiner Kultur verwurzelt, Jake.« Sie schauderte erneut. »Sehr tief. Davon konnten sich nicht ein mal die Roten Khmer frei machen, so atheistisch sie sonst waren. Dafür hatten sie diesen animistischen Aberglauben zu sehr im Blut. Und es sind nicht nur die Khmer, die an Khmer-Voodoo glauben.«
»An was?«
»Khmer-Voodoo. Die schwarze Magie der Khmer ist in ganz Südostasien gefürchtet. Die Lao hassen sie, die Thai fürchten sie, die Malaien, die Birmanen, die Chinesen, alle haben einen Heidenrespekt davor. In Thailand glauben zum Beispiel viele, dass der thailändische Premierminister Khmer-Talismane verwendet, sogenannte kratha .«
Unten am Wasser zogen Fischer ihre Netze ein, einen spärlichen Fang silbriger kleiner Fische. Penetrant riechend und zappelnd.
»Und was hat es mit diesen Talismanen in unseren Zimmern nun genau auf sich? Du hast sie vorhin mit einem speziellen Wort bezeichnet.«
» Koh krohen . Es könnten koh krohen sein. Ja. Tote Babys. Einbalsamiert.«
Angewidert schüttelte Jake den Kopf, während er die langen, schmalen Boote beobachtete, die auf dem kakaobraunen Wasser des Flusses vorbeiflitzten.
»Dann waren das also abgegangene Feten? Die mumifiziert worden sind?«
»Ja. Aber es gibt noch schlimmere. Und ich fürchte fast, die kratha in unseren Zimmern sind von der noch schlimmeren Sorte.«
»Noch schlimmer? Was könnte noch schlimmer sein?«
»Die Babys in unseren Zimmern … sicher bin ich zwar nicht, aber ich habe den starken Verdacht, dass es sich bei ihnen nicht um Fehlgeburten handelt.« Sie blickte auf den trägen, fauligen Fluss hinaus. »Ich fürchte, die Feten in unseren Zimmern gehören zu der schlimmsten Sorte überhaupt. Sogar noch schlimmer als die Geisterkinder. Du hast ja gesehen, wie das Zimmermädchen reagiert hat. Sie war völlig außer sich vor Entsetzen.«
»Jetzt sag schon. Was ist mit ihnen?«
»Was da in unseren Zimmern hing, waren wahrscheinlich kun krak . Rauchbabys. Das sind Babys, die …« Sie blinzelte, setzte noch einmal an. »Das sind Babys, die aus dem Bauch einer lebenden Frau geschnitten und dann mit geweihtem Öl übergossen und über einem Feuer geräuchert werden. Manche nennen sie auch kuk krun . Das heißt so viel wie ›gut durch‹.«
Sie stockte. Jake schaute zwischen den Papaya- und Jackfruchtbäumen hindurch auf den Fluss und versuchte, diese grauenhafte Vorstellung nicht an sich heranzulassen: ermordete Babys ermordeter Frauen, geräucherte Feten.
»Unfassbar.« Seine Stimme brach fast.
Chemdas Augen waren feucht und verletzlich. »Dass einer sie in … mein Zimmer, in unsere Zimmer gehängt hat, kann nur heißen, dass uns jemand mit allen Mitteln loswerden will. Es ist eine ebenso widerwärtige wie unmissverständliche Drohung, Jake. Irgendjemand will uns richtig Angst machen. Und ich muss gestehen, dass ihm das bestens gelungen ist. Jetzt habe ich wirklich Angst.«
»Hör mal, Chemda.« Jake hatte langsam seine Fassung wiedergewonnen und reagierte mit unverhohlener Wut. »Du bist in Kalifornien aufgewachsen. Du hast an der UCLA studiert. Du weißt, dass das alles nur Hokuspokus ist. Irgendein fauler Zauber, Voodoo eben. Voodoo-Puppen, tote Hühner, Zombies. Das ist doch alles vollkommener Schwachsinn …«
»So leid es mir tut, Jake, aber ich glaube daran. Selbst wenn ich noch so sehr versuche, ganz rational an die Sache heranzugehen, macht es mir trotzdem schreckliche Angst; dieser Glaube ist einfach zu tief in mir verwurzelt, er ist Teil meiner Kultur. Vielleicht ist es auch mehr als das; vielleicht ist es genetisch bedingt. Es wäre mir lieber, ich würde nicht daran glauben, aber ich bin machtlos dagegen. Tut mir leid, ich kann einfach nicht anders.«
So nah war sie einem Zusammenbruch noch nie gewesen. Den grausigen Tod von Professor Samnang hatte Chemda erstaunlich gut weggesteckt. Sie war auch nicht aus der Fassung geraten, als sie bei Areal 9 vor der Polizei geflohen waren; mit bewundernswerter Kaltblütigkeit hatte sie ihre Flucht aus der Verborgenen Stadt organisiert und die ganze Zeit kühlen Kopf bewahrt; aber diese kurze, wenn auch
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