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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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Erwachsenen. Altklug, schwatzhaft und ichbezogen wie so viele Einzelkinder.
    Aber auch einsam.
    Im Peugeot war inzwischen Stille eingetreten; sie waren schließlich in einer äußerst sensiblen Angelegenheit unterwegs. Aber Julia verspürte einen fast unwiderstehlichen Drang, sich mit den anderen im Auto zu unterhalten. Wenn sie allein war, fand sie Stille sehr beruhigend und bereichernd; aber im Beisein anderer Menschen konnte sie Stille nicht ertragen. Dann fühlte sie sich unerträglich einsam.
    Eine Frage ließ ihr keine Ruhe. Warum sollte ausgerechnet Annika die Leiche identifizieren? Sie und Ghislain waren zwar vor langer Zeit einmal ein Paar, aber sie waren nicht verheiratet gewesen, nur gute Freunde. Konnte das nicht irgendein Verwandter übernehmen? War nicht einmal von Kindern die Rede gewesen? Von Geschwistern? Oder Neffen?
    Julia wusste, dass ihre Frage in dieser Situation ein wenig unangebracht war, aber sie musste sie einfach stellen. Es ließ ihr keine Ruhe.
    »Annika?«
    Ihre belgische Freundin drehte sich nicht zu ihr. Aber sie antwortete kühl. »Oui?«
    »Hatte Ghislain sonst keine Verwandten?«
    »Nein.« Die Schroffheit von Annikas Antwort wurde nicht abgemildert, als sie fortfuhr: »Er hat zwar eine Schwester, aber sie lebt in Tahiti. Und sonst gibt es niemanden.«
    »War es nicht so … ich dachte, er hätte Kinder von einer …«
    »Keine Kinder!« Annikas Beherrschung bekam deutlich Risse; und jetzt drehte sie sich Julia zu. »Nein! Ich sagte doch, er hatte niemanden.«
    Die alte Archäologin hatte sich sofort wieder im Griff, gerade so, als hätte sie ihre unerwünschten Emotionen fein säuberlich in eine Abfalltüte gepackt und kurzerhand in die Mülltonne geworfen. Julia entging nicht, dass sich Rouvier ihnen zugewandt hatte, um ihrem Wortwechsel zu folgen. In seinem Stirnrunzeln lag nichts Bedrücktes, es war interessiert und neugierig. Wachsam und intelligent.
    Julia vermutete, dass er einen hohen Posten bei der Polizei von Lozère bekleidete. Da sich hier, in Frankreichs verlassenstem Departement, sicher nicht viele Morde ereigneten, war davon auszugehen, dass alle schwereren Straftaten unter die Zuständigkeit der ranghöchsten Beamten fielen.
    Am regenverschwommenen Horizont glommen in giftigem Orange die Lichter der Vororte von Mende auf. Rouvier sprach schnell und leise mit Annika. Obwohl Julia aus Höflichkeit vorgab, nicht mitzuhören, bekam sie dennoch mit, wie der französische Gendarm sagte: »Machen Sie sich auf etwas gefasst.«
    Gefasst worauf? Wie war Ghislain gestorben? Wer hatte ihn umgebracht?
    Erst in diesem Moment wurde Julia die Abscheulichkeit der Situation in vollem Umfang bewusst. Plötzlich packte sie blankes Entsetzen. Ghislain war gewaltsam zu Tode gekommen.
    Inzwischen hatten sie das Stadtgebiet von Mende erreicht, und das Polizeiauto fuhr auf einmal schneller, als würde es von den städtischen Schnellstraßen, auf denen so spät – und bei diesem Wetter – so gut wie kein Verkehr herrschte, dazu ermutigt. Vom Jaulen des Martinshorns begleitet, rauschten sie wiederholte Male bei Dunkelgelb über die regenglänzenden Kreuzungen des nächtlichen Mende.
    Julias vorübergehend adoptierte Heimatstadt huschte an den Autofenstern vorbei. Die Kathedrale, das Museum, das Hotel Lion d’Or. Warum gab es in jeder französischen Stadt ein Hotel Lion d’Or?
    Und dann das Krankenhaus. Julia war nie zuvor in diesem Krankenhaus gewesen, aber es war wie jedes andere. Es hätte auch ein Krankenhaus in Chicago sein können.
    »Par là … je connais bien la route.«
    Türen gingen auf, Krankenschwestern hasteten durch lange Flure, alte Menschen lagen auf Bahren und starrten finster auf nichts. Alles Menschen, die von ihren eigenen Körpern verraten und betrogen wurden.
    In einem riesigen Edelstahlaufzug fuhren sie in den Keller hinunter. Wieder überkam Julia der absurde Drang, die Stille zu füllen. Was hätte sie sagen können: Wow, das ist aber ein großer Aufzug?
    Sie sagte nichts. Schloss die Augen. Versuchte nicht an das zu denken, was sie gleich sehen würden. Bekäme sie überhaupt etwas zu sehen, würde man sie überhaupt hineinlassen? Makabererweise wollte Julia die Leiche sehen. Sie hatte noch nie einen toten Menschen gesehen und wollte sich diese einmalige Gelegenheit nicht entgehen lassen, schämte sich aber zugleich wegen ihrer Gefühllosigkeit. Die arme Annika. Der arme Ghislain.
    Das Französisch, das gesprochen wurde, als sie den langen Korridor des

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