Bibel der Toten
Nachdenklich und sichtlich gerührt.
»Erzähl mir von dir, Chemda.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen.«
»Jetzt hör mal, achtundzwanzig. Unverheiratet. Freund?«
Sie lächelte verhalten. »Ich bin noch Jungfrau …« Nach einer kurzen Pause fügte sie mit einem breiteren Lächeln hinzu: »In Kambodscha.«
Er lachte, etwas unsicher.
»Irgendwie absurd, dass wir ausgerechnet jetzt über das alles reden, findest du nicht auch, Jake?«
»Wieso? Worüber sollten wir sonst reden?«
»Okay, schon gut. Tja, wie soll ich es am besten ausdrücken? In L. A. war ich jedenfalls nicht ganz so sittsam. Da gab es sogar einige Jungs. Die falsche Sorte Jungs.« Ihr Blick traf seinen. »Irgendwie hat mich diese Unsicherheit – wenn ich nicht wusste, woran ich bei einem Jungen war – immer gereizt. Ich fühlte mich meistens zu Jungs hingezogen, die ständig auf dem Sprung waren, Draufgänger, Abenteurer, Jungs, die sich nicht festlegen wollten. Wahrscheinlich lag das daran, dass auch ich mich nicht binden wollte. Doch, das kann man wohl so sagen. Dabei darfst du nicht vergessen, dass die Khmer sehr konservativ sind; die Mädchen sollen jung heiraten. Langsam machen sich meine Eltern deshalb auch schon ernsthaft Sorgen um mich. Vor allem jetzt, wo ich schon über fünfundzwanzig bin … Ach ja.«
Wasservögel, silbern und blau, schossen blitzartig auf den Fluss herab. Vielleicht irgendeine Eisvogelart. Jake und Chemda unterhielten sich noch eine Weile, aber dann legte sich wieder Stille über das Boot, und mit der Stille kehrte die Angst zurück. Die drückende Hitze trieb sie in verschiedene Bereiche des Boots.
Jake nahm einen Schluck aus seiner Flasche. Das Wasser war ungenießbar warm. Dann tauchte er ein T-Shirt in den Fluss und drückte seine feuchte Kühle an sein glühendes Gesicht.
Der Außenbordmotor röhrte monoton. Von seiner Unrast und der quälenden Hitze ausgelaugt, legte sich Jake auf die harten Planken der Piroge, und fast sofort lockten ihn die Nixen des Schlafs zu sich hinab. Zarte Frauenarme, die ihn in die Tiefe zogen. Immer tiefer. In das Dunkel des Schlafs, zu den murmelnden Knochen.
Als er aufwachte, schaute er als Erstes erschrocken auf seine Uhr. Er hatte drei Stunden geschlafen. Chemda schlief immer noch. Palmwedel filterten die tief stehende Sonne. Die Dämmerung brach herein. Pang sah ihn an.
»Sind bald da. Sie und Chemda sehr müde, glaube ich.«
Bestürzt wurde Jake bewusst, dass er die ganze Zeit angenommen hatte, Pang könne kein Englisch. Er war davon ausgegangen, die Schweigsamkeit des manns sei darauf zurückzuführen, dass er nicht verstand, was sie sagten. Jake hatte erst gar nicht versucht, sich mit ihm zu unterhalten.
»Entschuldigung, Pang. Ich wusste gar nicht, dass Sie Englisch sprechen … das tut mir leid.«
»Macht nix. Ich verstehe, viel Gefahr. Keine Angst.« Der alte Mann nickte. Er schien mit den Gedanken woanders. Seine Aufmerksamkeit galt den im Wasser schwimmenden Baumstämmen und den Felsen, die plötzlich vor ihnen auftauchten.
Der Fluss war deutlich schmaler geworden, die Strömung stärker, die Uferböschungen steiler. Und hinter der Uferkante nichts als undurchdringlicher Dschungel. Ein jüngerer Mekong.
»Ich bringe viele Jahre Touristen her, für Madame Agnès. Von Hotel. Ich kenne Familie lange Zeit.« Pang zögerte. »Einmal treffe ich auch ihre Familie.« Er warf einen kurzen Blick in Richtung Chemda. »Sie ist Freund von Agnès.«
»Wen haben Sie von ihrer Familie gekannt?«
»Großmutter. Madame Sovirom. Sie lebte nach Krieg in Luang.«
Jake stutzte und überlegte. Wie sollte das gehen? Chemdas Großmutter war von den Roten Khmer ermordet worden. Aber irgendwie musste es wohl stimmen. Auch die Hmong hatten sie gekannt oder zumindest von ihr gehört. Warum dann nicht auch jemand in Luang?
Pang ließ den Motor aufheulen und steuerte das Boot auf das gegenüberliegende Ufer zu. Chemda schlief immer noch tief. Ihr Kopf ruhte auf einem gefalteten Sarong, ihre bloßen dunklen Beine waren schlammbespritzt.
Pangs Manchester-United-Trikot war fleckig von Schweiß, Flusswasser und Öl; die Hinterlassenschaften ehrlicher schwerer Arbeit. Er sagte: »Ich erzähle Chemda nicht. Traurige Geschichte.«
»Was für eine Geschichte?«
»Ich erzähle Ihnen. Aber geheim. Alle tun, als ob nichts wissen. Madame Agnès, alle. Die berühmte Lady aus Phnom Penh, königliche Lady. Sie lebte in Le Gauguin nach Krieg. Ein paar Jahre. Jeden Tag Madame Sovirom am Fluss,
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