Bibel der Toten
ähm, ja, tut er!«
»Dann beschaffen wir uns doch einfach ein Boot. Jetzt sofort.«
Die beiden rannten auf den hölzernen Steg hinaus. An seinem Ende hockten im Schatten eines Palmwedeldachs ein paar barfüßige Männer, die ausgelassen lachend würfelten. Chemda ging auf sie zu und sprach einen von ihnen auf Khmer oder Lao an – jedenfalls in einer Sprache, die Jake nicht verstand. Er fühlte sich stärker ausgeschlossen denn ja. Er war so fremd hier; er war sogar mehr als fremd, er kam sich vor wie ein Exemplar einer anderen Spezies. Chemda drehte sich aufgeregt zu ihm um und übersetzte.
»Er hier, Pang …« Sie deutete auf einen drahtigen kleinen Mann. »Er kennt Agnès. Und er kennt eine Stelle, wo der Fluss nah an der Grenze verläuft; hinter Pak Beng, das liegt eine Tagesfahrt flussaufwärts. Er kann uns hinbringen. Die Gegend dort oben ist völlig verlassen, nichts als Wildnis. Wir können die thailändische Grenze zu Fuß erreichen. So kommen wir wenigstens aus Laos raus. Und dann können wir von Chiang Rai nach PP fliegen.«
Jake sah Pang an. Der alte Laote trug verblichene Shorts aus Jeansstoff und ein Manchester-United-Trikot. Er hatte ein kleines, schmales Boot, eine Piroge. Er grinste. Und er machte einen vertrauenswürdigen Eindruck. Jake musste fast lachen über seine müßigen Überlegungen. Hatten sie denn überhaupt eine Wahl? Vielleicht durchsuchte die Polizei bereits den Hotelgarten, während er hier noch lange überlegte. Es war nur eine Frage von Minuten, bis sie sie eingeholt hätten.
Ihre Rucksäcke wurden einfach vom Steg auf den Boden des Boots geworfen, wo sie mit einem dumpfen Knall landeten. Hastig kletterte Chemda die Holzleiter hinunter und stieg in die schaukelnde Piroge. Pang schwieg. Alle schwiegen. Niemand redete über die Rauchbabys, die Gutdurch-Babys, die an der Tür hängenden Geisterkinder mit ihren milchig weißen starren Augen. Jake musste ständig an sie denken.
Wer hatte sie dort aufgehängt? Wer wollte ihnen Angst einjagen? Wer versuchte, sie zu vertreiben?
Der breite Strom lockte, unerbittlich und stumm. Jake kletterte an Bord. Pang riss bereits am Starterseil des Außenbordmotors, und sofort schossen sie, ständig auf der Flucht vor ihrer weiß schäumenden Heckwelle, in das träge gurgelnde Wasser in der Mitte des breiten Stroms hinaus.
Schon nach kurzem waren die gestuften weißen Stupas und goldenen Wats von Luang mit dem von Bananenstauden bewachsenen Phousi-Berg im Hintergrund nicht mehr zu sehen. Jake beobachtete, wie die Stadt der Räucherstäbchen hinter ihnen immer kleiner wurde. Er war heilfroh, aus Luang Prabang wegzukommen, aber ihm war auch sehr deutlich bewusst, dass er nicht wirklich entkam. Wie sollte jemand seinen eigenen Erinnerungen entkommen? Egal, ob es frische Erinnerungen waren oder alte, sie ließen einen nicht mehr los, nie mehr.
Der Mekong war riesig in seiner Apathie. Breit, träge und gewaltig. Beunruhigenderweise begegneten sie auf den ersten Kilometern zahlreichen Ausflugsbooten mit westlichen und chinesischen Touristen, die ihnen zuwinkten wie kleine Kinder; Jake wünschte sie alle zum Teufel. Ab und zu raste ein Motorboot an ihnen vorbei und brachte sie, einen luftigen Isadora-Schal aus blauem Dieselqualm hinter sich her ziehend, mit seiner Heckwelle ins Schaukeln; und jedes Mal hatte Jake von neuem panische Angst, dass sie plötzlich beidrehen und Chemda und ihn festnehmen könnten.
Nach einer Stunde waren sie allerdings so gut wie allein auf dem Fluss. Aber möglicherweise war die Verlassenheit noch schlimmer als die hektische Betriebsamkeit. Es war beängstigend einsam auf dem von dichtem Dschungel gesäumten Oberlauf des Lao Mekong.
Die Bambusse am Ufer wiegten sich im Wind, rote Blütenblätter schwebten lautlos auf das milchig braune Wasser herab. Flussvögel flogen über sie hinweg. Wilde Litschis, schwarze Reiher, Stille.
Hin und wieder kamen sie an kleinen, im Dschungel versteckten Dörfern vorbei, aus denen schmutzige nackte Kinder, aufgeregt schreiend und primitive geschnitzte Holzpuppen schwenkend, ans Flussufer stürmten.
»Souvenirs«, sagte Chemda. »Manchmal verirren sich die Touristenboote bis hierher und kaufen den Dorfbewohnern etwas ab. Ansonsten haben diese Menschen hier so gut wie nichts zum Leben. Früchte aus dem Wald. Affenfleisch. Ja. Sehr ärmliche Verhältnisse.«
In einem anderen Dorf schaute eine auf einem Baumstamm sitzende alte Frau mit nackten, verwelkten Hängebrüsten grinsend zu ihrem
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