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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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in Garten, und jeder Mann mit Boot kennen sie. Sie immer nur am Fluss, jeden Tag, drei Jahre lang, vielleicht vier. Manche Männer rufen schlechte Name, Khmername – vierunii …«
    »Was heißt das?«
    »Lao-Lao. Whiskey. Aber auch … dumme Frau, schlecht geworden von Schnaps. Madame Sovirom ist immer wie betrunken.« Zur Verdeutlichung legte er den Kopf auf die Seite und ließ seinen Unterkiefer schlaff nach unten sacken, wie die Karikatur eines Gelähmten oder Behinderten.
    »Und sie hat einfach immer nur dagesessen? War sie krank?«
    Pang zuckte mit den Achseln. Seine Miene war nachdenklich, besorgt.
    »Nicht krank. Selbst schuld, sagt sie.«
    »Was?«
    »Haben sie aufgeschnitten, aber sagen, Madame Sovirom wollte das.« Pang seufzte. »Ich weiß nichts, vielleicht lieber nichts sagen.«
    »Ich will es aber wissen.«
    Eine Pause. Sie waren nur noch wenige Meter vom Ufer entfernt. Jake sah eine Sandbank und einen schmalen Pfad, der die steile Uferböschung hinauf in den Dschungel führte. Er vermutete, dass dieses Ufer bereits zu Thailand gehörte. Hinter der Böschung waren Thailand und Straßen und richtige Flughäfen und Supermärkte und Sicherheit – sie waren fast in Sicherheit –, aber bevor er an Land ging, wollte er noch mehr erfahren, so viel wie möglich.
    »Pang, soll das heißen, dass Chemdas Großmutter sich freiwillig für Experimente zur Verfügung gestellt hat?«
    »Frei … will …?«
    »Freiwillig. Das heißt, es heißt … wollen Sie damit sagen, Madame Sovirom hat sie gebeten, es mit ihr zu tun? Ihr den Kopf aufzuschneiden?«
    »Ja. Ja. Doi! So ist es. Sie wollte es, damit sie tapfer wird wie Löwe, wie tapferes Tier, aber dann ist schiefgegangen und sie wie … tote Frau. Nur dasitzen. Viele Jahre. Auf Fluss schauen. Traurige Geschichte, so traurig.« Mit einem verständnislosen Stirnrunzeln steuerte Pang das Boot auf die Sandbank.

12
    E rst als Capitaine Rouvier vom Krankenhausparkplatz gefahren und nicht mehr zu sehen war, machte sich Julia auf den Weg zu ihrer Wohnung. Es war ein Gang durch die beißende Kälte des Regens, aber das machte ihr nichts aus. Sie war sogar froh über die Kälte, und sie war froh über den Nieselregen. Beides passte zu ihrer bedrückten, melancholischen Stimmung. Ihre langsamen Schritte schlugen leise den passenden Takt zu ihren Gedanken. Da war ihr Ärger, dass sie bei Rouvier so überzogen reagiert hatte, und ihre Angst und ihre Trauer über den Mord an Ghislain – und die unglaubliche Brutalität, mit der er verübt worden war.
    Von einem wilden Tier in Stücke gerissen.
    Gedankenverloren blieb Julia unter dem schwach beleuchteten Vordach eines alten Bankgebäudes stehen. Crédit Agricole.
    Wie ein Telefon, das nicht zu läuten aufhören wollte, wie die jaulende Alarmanlage eines Autos, die die ganze Nachbarschaft weckte, hatte die Vergangenheit unablässig auf die Gegenwart eingehämmert, und nun war ihr Widerstand gebrochen. Sie konnte nicht mehr anders, als sich der schmerzlichen Erinnerung zu stellen; sonst würde sie von ihr noch in den Wahnsinn getrieben.
    Sie war neunzehn gewesen. Als es passierte. In Sarnia.
    Ein Initiationsritual, das unter den Teenagern von Marysville weit verbreitet war. Man fuhr über die Grenze nach Kanada, wo man als Minderjähriger – nach amerikanischen Maßstäben – Alkohol trinken durfte. Und normalerweise machte das ihre Clique immer in Sarnia, einer hässlichen kleinen kanadischen Grenzstadt mit Lagerhäusern, einem Umschlagbahnhof, Güterzügen und dem Charity Casino – und mit jeder Menge Getränkemärkte, in denen man billigen Bourbon und Labatt Blue Light kaufen konnte.
    Sie und ihre Freunde hatten diese Tour bestimmt schon ein Dutzend Mal gemacht, aber an diesem einen Abend war die Sache aus dem Ruder gelaufen. Vielleicht hatten sie zu viel getrunken oder zu viel Skunk geraucht. Vielleicht hatte jemand irgendwelche Pillen eingeworfen. Egal was, sie wusste es nicht. Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Jedenfalls war der Abend dann irgendwie eskaliert. Ein Typ mit einem VW-Bus bot ihr an, sie nach Hause zu fahren. Nur fuhr er sie nicht nach Hause. Minuten später, eine Stunde später – sie wusste es nicht mehr – war sie mit Callum, einem Jungen, auf den sie damals ein bisschen gestanden hatte, hinten in diesem Bus, und er küsste sie, und sie, schon zur Hälfte ausgezogen, knutschte mit ihm rum und lachte und trank immer mehr und bekam gar nicht mehr richtig mit, dass noch andere Typen in dem Bus waren.

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