Bibel der Toten
Boot. Jake zuckte heftig zusammen. Ihr Mund war voll Blut. Und obwohl ihr Mund voll Blut war, lächelte sie. Erst nach einer Weile merkte er, dass sie Betelnüsse kaute. Die Frau grinste munter weiter ihr grausig rotes Grinsen.
Das Boot pflügte unaufhaltsam durch das schmutzig braune Wasser, wich schlammigen Sandbänken und Stromschnellen aus, duckte sich unter überhängenden Bambussen durch. Wasserschlangen glitten wie bedrohliche Sinuskurven aus Gelb unter ihnen hinweg. Hinter einer Flussbiegung tauchte schließlich eine riesige Höhle vor ihnen auf. Im Dunkel ihrer großen Öffnung schimmerten Hunderte, wenn nicht Tausende grienender kleiner Buddhas, auf Fels oder Sand stehende Statuen aus Gold und Silber. Am Ufer waren mehrere Boote vertäut. Pilger?
»Die heiligen Höhlen«, erklärte Chemda.
Die Sonne war zermürbend heiß, wie ein unablässig lauernder Feind. Jake wurde das Gefühl ständiger Bedrohung nicht los. Folgte ihnen jemand? Er blickte immer wieder hinter sich, doch auf dem trägen Wasser des breiten Stroms, das sich bis zu einem von Bananenstauden und gekrümmten Palmen eingefassten Horizont erstreckte, war nichts und niemand zu sehen.
Pang, ihr Bootsführer, war so schweigsam wie der Fluss. Alt, aber fit und drahtig, erschien er Jake wie einer dieser Asiaten, die aussahen, als würden sie nie sterben. Vom Alter und von der Sonne geräuchert. Wie Heringe. Manchmal lächelte er, aber er sagte kein einziges Wort.
Chemda schien sich wieder gefangen zu haben. Ihr war nach Reden. Sie versuchte, Jake die Khmer-Kultur zu erklären, ihre abergläubischen Bräuche und uralten Legenden.
»Es gibt Leute, die finden, dass die Khmer eine besonders dunkle Seite haben.«
»Wie meinst du das?«
»Das lässt sich leider nicht so leicht erklären. Aber ich kann ja mal versuchen, es dir anhand eines Beispiels deutlich zu machen: kum .«
»Aha.«
» Kum ist das Bedürfnis, sich zu rächen. Wobei eine besondere Eigenheit der Khmer ist, dass sie versuchen, ihre Feinde zu ruinieren, ja, sie regelrecht zu vernichten.«
»Wie bei der Blutrache.«
»Ja und nein. Der Blutrache liegt das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn zugrunde: Du bringst einen von meinen Leuten um, ich bringe einen von deinen um. Kum dagegen ist noch viel tödlicher – das heißt, nein, tödlich ist nicht das richtige Wort dafür.« Sie schaute abwesend ans Flussufer, wo ein Reiher auf einem Ast saß. » Kum ist … maßloser, radikaler. Kum ist, wenn die Rache vollkommen, ähm, unverhältnismäßige Züge annimmt.«
»Und wie muss man sich das konkret vorstellen?«
»Man rächt sich mit extremer Brutalität. Wenn dir jemand Leid zufügt, wird er dein Feind, dein soek , und du musst dich rächen, sangsoek . Aber kum besagt, dass du deinem Feind zehnmal mehr Leid zufügst, als er dir zugefügt hat. Wenn jemand deine Schwester vergewaltigt, musst du seine Schwester und seinen Bruder umbringen – und seinen Vater und seine Mutter. Du musst alle umbringen.«
Jake glaubte, aus Chemdas Worten sehr tiefes persönliches Leid herauszuhören. Aber er blieb still. Ihr edles Profil wurde vom beunruhigenden Grün des Dschungels und dem schmerzlichen Blau des Himmels eingefasst, als sie fortfuhr:
»Der Legende nach haben die Khmer den Buddhismus, der als die friedfertigste aller Religionen gilt, vor allem deshalb angenommen, weil er ein Gegengewicht zu kum bildete. Und deshalb …« Sie beugte sich über den Rand des Boots und ließ ihre zarten Finger durch das Wasser streifen. »Deshalb war der Kommunismus für Kambodscha besonders verhängnisvoll.«
»Das musst du mir genauer erklären.«
»Die Roten Khmer haben den Buddhismus mit seinem mäßigenden Einfluss abgeschafft. Sie haben die Tempel niedergebrannt und die Mönche gefoltert und umgebracht. Sie haben Gott zu ermorden versucht. Und was ist dabei herausgekommen?« Sie zuckte mit den Achseln und schüttelte sich. »Die Killing Fields. Die menschenverachtende Brutalität der Killing Fields. Wenn man den Khmer nämlich die Religion wegnimmt, bleibt nur noch kum – und Tyrannei.«
Als fürchtete sie, von etwas gebissen zu werden, zog Chemda abrupt die Hand aus dem Fluss. »Und manchmal glaube ich, dass wir nach wie vor ein verfluchtes Volk sind.« Sie blickte in das spiegelnde Wasser. »Ja. Ein Volk, dem etwas fehlt. Menschlichkeit. Vielleicht sind wir immer noch die Schwarzen Khmer. Durch und durch blutrünstig.«
Das Boot fuhr langsamer. Sie näherten sich einer größeren Ansiedlung mit
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