Bibel der Toten
einem Landesteg und Geschäften und einigen wenigen Fischerbooten: ein Dorf, in dem die Kinder Kleider trugen und nicht splitterfasernackt herumliefen.
»Das ist Pak Beng. Wir werden hier kurz haltmachen und Wasser fassen. Hier haben wir nichts zu befürchten. So weit flussaufwärts verschlägt es normalerweise niemanden. Von hier sind es noch einmal ein paar Stunden bis zur thailändischen Grenze.«
Sie vertäuten das Boot. Jake ging an Land und kaufte sich an einem Getränkestand eine warme Cola. Der Mann, dem der Stand gehörte, hatte nur noch ein Auge und einen Arm und ein Bein, aber wenn er grinste, kam ein vollständiges Gebiss mit leuchtend weißen Zähnen zum Vorschein.
Jake kehrte zum Boot zurück. Er fühlte sich in keiner Weise erfrischt; er fühlte sich nach wie vor gehetzt und ausgelaugt. Die Sonne war unerträglich heiß; da half auch der kühlende Fahrtwind nicht, als sie langsam weiterfuhren. Die Stille über dem Fluss und die Erinnerung an das Rauchbaby an der Tür seines Hotelzimmers lasteten auf ihm wie die drückende Schwüle vor einem Gewitter. Er hatte das Bedürfnis zu reden. Aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Chemda kam ihm zu Hilfe.
»Warum plagst du dich so mit Schuldgefühlen?« Es war eine ihrer direkten, geradezu bohrenden Fragen.
Er scheute sich davor, sie zu beantworten. »Wie meinst du das?«
»Als wir auf der Ebene der Tonkrüge waren, hast du gesagt …« Ihre Stimme wurde sanfter, so als ahnte sie, dass ihn ihre Worte verletzen würden. »Du hast gesagt, dass du schwere Schuldgefühle hast, weil du deine Familie überlebt hast, beziehungsweise deine Mutter und deine Schwester. Warum?«
Chemda hatte eine ganz bestimmte Art, die Wahrheit aus ihm herauszukitzeln, und wieder verspürte er das starke Bedürfnis, ihr alles zu erzählen – vielleicht weil es auch in ihrer Vergangenheit so einen dunklen Fleck gab.
»Als meine Schwester überfahren wurde, war ich bei ihr. Ich sollte auf sie aufpassen, sollte sie an der Hand fassen, aber ich war erst sieben und sie fünf. Noch sehr klein also. Trotzdem lag die Verantwortung bei mir, verstehst du? Und trotzdem habe ich sie losgelassen, und dann … dann ist sie auf die Straße gelaufen.« Den Rest der Geschichte schluckte er halb hinunter. Sein Blick blieb die ganze Zeit auf der dichten Vegetation des Dschungels haften, die den Fluss auf beiden Seiten begrenzte wie eine unüberwindliche Mauer. »Und danach – ich habe es dir ja schon erzählt – ging es mit meiner Mutter rapide bergab, bis sie eines Tages einfach verschwand. Mit gebrochenem Herzen. Ich weiß auch nicht. Jedenfalls bilde ich mir ein, dass es alles meine Schuld war. Hätte ich Becky nicht losgelassen, wäre das alles nicht passiert. Kinder neigen dazu, die Schuld immer bei sich selbst zu suchen, stimmt’s? Jedenfalls habe ich das lange getan, und manchmal tue ich es auch jetzt noch. Immer dann, wenn ich nicht arbeite. Oder trinke. Oder Fußball schaue. Verstehst du?«
Begleitet vom penetranten Röhren des Außenbordmotors, fuhren sie um eine scharfe Biegung des Flusses. Pang blickte unverwandt geradeaus nach vorn, wo glatte Felsen aus dem Wasser ragten.
»Ich habe ein Foto. Von Rebecca. Es ist das einzige Erinnerungsstück an sie, das ich habe, das Einzige, was von ihr übrig geblieben ist.«
Chemda sagte nichts. Stattdessen legte sie kurz ihre Hand auf seine und verpasste ihm damit einen zärtlichen Stromschlag. Dann setzte sie sich zurück.
Er griff nach seinem Rucksack, öffnete den Reißverschluss und nahm seine Geldbörse heraus. Da. Das Foto. Eins der ersten Fotos überhaupt, das er gemacht hatte. Von seiner Schwester. Kurz bevor sie gestorben war. Er reichte Chemda die kleine Polaroidaufnahme, als vertraute er ihr seinen kostbarsten Besitz an. Ein rührendes Foto. Aufgenommen von einem Siebenjährigen. Aber es war kostbar; darauf seine fünfjährige Schwester mit einem spitzbübischen Grinsen und einem Hut, der ihr drei Nummern zu groß war. Lachend.
Chemda bekam feuchte Augen.
»Sie war … sehr süß.«
Jake nahm das Foto achselzuckend wieder an sich und steckte es in seinen Rucksack zurück. Zog bedächtig den Reißverschluss zu.
»Manchmal frage ich mich, ob ich nicht vielleicht eine übertrieben morbide Ader habe. Dieses Foto die ganze Zeit mit mir herumzutragen. Aber es ist meine einzige Verbindung zur Vergangenheit. Kannst du das verstehen?«
»Natürlich.« Chemda nickte. »Sehr gut sogar …«
Sie schaute auf das gekräuselte Wasser.
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