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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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Und zuschauten. Lüstern lauernd.
    Als sie irgendwann begriff, was da gerade ablief, war es bereits zu spät. Sie war nackt, und die anderen Jungen lachten, weil sie dachten, es machte ihr Spaß – machte es ihr Spaß? –, und dann tat sie es einfach: Sie schlief mit einem von ihnen, vielleicht auch mit zweien, und die anderen schauten zu und lachten, und sie schauderte bei der Erinnerung, wie sie die Jungen gepackt hatten, geifernd wie Tiere; und als sie langsam wieder nüchtern wurde, setzte der Schock ein, und sie begann zu schreien und zu heulen, bis jemand Mitleid mit ihr bekam und die anderen aus dem Bus warf. Ihr Retter rief ihren Vater an, der um zwei Uhr morgens in Sarnia eintraf und seine spärlich bekleidete, haltlos schluchzende und beharrlich schweigende Tochter im Foyer des Charity Casino fand, wo sie herumstand wie eine Nutte. Als wäre sie eine Nutte. Und sich fragte, ob sie tatsächlich eine Nutte war. Oder sogar Schlimmeres als eine Nutte.
    Sie war ihrem Vater zutiefst dankbar gewesen in dieser Nacht. Für sein Einfühlungsvermögen und sein Taktgefühl, ihr nicht zu viele Fragen zu stellen: dass er sie einfach nur in die Arme genommen und beschützt und gerettet hatte. Und als sie dann in der Winterkälte durch die tröstlich trostlosen Vorstädte nach Hause gefahren waren, hatte er, um die Leere des Vater-Tochter-Schweigens im Auto zu füllen, seine Lieblingsjazzstücke gespielt.
    Drei Monate später hatte sie die Abtreibung. Auch das behielt sie für sich. Ein weiteres beschämendes Geheimnis. Ein halbes Jahr später kam sie an die McGill und ließ das alles hinter sich.
    Der kalte Lozère-Regen ließ ein wenig nach. Julia trat unter dem Vordach der Crédit Agricole hervor und setzte ihren Heimweg fort.
    Warum drängten sich ihr diese Erinnerungen gerade jetzt auf? Ihre Kindheit war, wenngleich ereignislos, gewöhnlich und langweilig, im Großen und Ganzen glücklich gewesen. Sie liebte ihre Eltern; ihre Eltern liebten sie. Sie hatte eine ordentliche Erziehung genossen. Da war nur dieser eine Vorfall, der alles überschattete, nur dieser eine Ausrutscher. Und im Prinzip war sie darüber hinweggekommen. Glaubte sie zumindest.
    War es vielleicht die animalische Bestialität des Angriffs auf Ghislain, die sie daran erinnerte? Sie dachte an die Jungen in dem Bus; sie waren ihre Freunde gewesen, und mit einem Schlag, ohne besonderen Anlass, waren sie zu einem gefährlichen Rudel mutiert. Einem Wolfsrudel. Wie leicht der Mensch zum Tier wurde.
    Vielleicht war es auch das Blut auf Ghislains Leiche. Wie das imaginierte Blut ihrer Abtreibung. Das Karmesin ihrer Schuld.
    Die Assoziationen waren vielfältig.
    Zu ihrer Wohnung war es jetzt nicht mehr weit. Pfützen auf dem grauen Pflaster reflektierten die Straßenbeleuchtung von Mende; sie reflektierten auch ihr nachdenklich gesenktes Gesicht. Julia ließ ihren Gedanken freien Lauf, ließ sie von der Vergangenheit zu ihrem Gespräch mit Rouvier wandern.
    Ja.
    Die plötzliche Erkenntnis war wie eine Reflexion des Mondes, der unerwartet hinter den Wolken hervorkam: groß und erschreckend.
    Ja.
    Von Verlaine, das war, was Rouvier gesagt hatte. Aus einem Gedicht von Verlaine.
    Und Ghislain hatte damals gesagt: Die Sammlung von Prunier ist dafür genau der richtige Ort.
    War das vielleicht des Rätsels Lösung? War das der Grund, weshalb sie nicht weiterkam?
    Sie war die ganze Zeit davon ausgegangen, dass Ghislain mit dem Hinweis auf die »Sammlung von Prunier« das Dorf Prunier im Norden des Departements Lozère gemeint hatte; aber als sie letzte Woche hingefahren war, hatte sie dort nichts gefunden.
    Doch vielleicht war Prunier gar kein Ortsname, sondern eine Person. Vielleicht hatte Ghislain damals oben auf der Cham mit der Sammlung von Prunier die Sammlung eines Archäologen, eines Wissenschaftlers gemeint.
    Rasch ordnete sie ihre Gedanken neu. Prunier oder Prunières war ein relativ weit verbreiteter Familienname. Zwar kannte sie keinen Wissenschaftler dieses Namens, aber hier handelte es sich um eine obskure Nische der französischen Wissenschaft. Vielleicht eine lokale Berühmtheit? Oder jemand, der schon lange tot und vergessen war.
    Nach zwei Minuten Fußweg zu ihrer Wohnung und zwei Stunden vor ihrem Laptop, in denen sie sich mühsam durch die obskursten und ausgefallensten französischen Internetseiten gekämpft hatte, fand sie schließlich die Antwort: Pierre-Barthélémy Prunières .
    Sie hatte richtig vermutet.
    Wie sich herausstellte, war er in

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