Bibel der Toten
dass an Tyrones Unterstellung etwas Wahres war. Er fühlte sich bereits sehr stark zu Chemda hingezogen. Das Schreckliche, was sie gemeinsam durchgemacht hatten, hatte ihre Schicksale unauflöslich miteinander verwoben.
Tyrone beugte sich vor wie ein verschwörerischer Kardinal. Zynisch, aber lächelnd.
»Soll ich dir einen guten Rat geben?«
»Nein.«
»Sei bloß vorsichtig. Sei bloß vorsichtig bei diesem Mädchen. Das ist eine verdammt mächtige Familie. Wenn du dich auf Chemda einlässt, hast du den ganzen Clan am Hals. Die Teks und die Soviroms. Und vor allem ihren Großvater.«
»Sovirom Sen. Kennst du ihn?«
Tyrone nickte. »Von verschiedenen Botschaftspartys. Ein enorm cleverer Bursche, mit allen Wassern gewaschen, und dazu ein Charmeur alter Schule. Genau wie die Roten-Khmer-Führer.«
»Jetzt hör aber mal. Die Roten Khmer und Charmeure?«
»Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber diese Typen hatten echt Charme.«
»Das ist eine Eigenschaft, die ich nicht unbedingt mit Massenmördern in Verbindung …«
Tyrone hob die Hand.
»Vergiss nicht, ich habe ein paar dieser Leute interviewt. Angehörige der Rote-Khmer-Führung. Das war eine Erfahrung, die mir ganz schön zu denken gegeben hat. Denn ob es dir gefällt oder nicht, diese Typen sind häufig intellektuell, die haben sehr wohl Geist und Esprit – und sehr gute Manieren.« Er hob seine Bierflasche, nahm einen Schluck daraus und führte weiter aus: »Das liegt vermutlich an ihrer Herkunft, diese Alte-Welt-Kultiviertheit. Pol Pot war ein Dummkopf, total mittelmäßig, ein Funktionär wie Himmler, mit einer ganz besonderen Gabe für alles Organisatorische – und fürs Töten. Aber viele von ihnen haben die besten Schulen hier und die besten Universitäten in Paris besucht. Sie können dir Baudelaire und Rimbaud und Byron zitieren, sie reißen geistreiche Witze, und sie stehen auf Schubert. Es ist in höchstem Maß verstörend, denn du sitzt da und denkst, ich fasse es nicht, dieser Dreckskerl hat der möglicherweise schlimmsten Regierung der Menschheitsgeschichte angehört, einer Regierung, die reihenweise Menschen gekreuzigt und gleichzeitig auch noch verbrannt hat. Trotzdem bringt er mich zum Lachen; der Typ hat was.«
»Und Großvater Sen ist auch so?«
»Ein wenig. Oberschicht, ursprünglich chinesischer Abstammung. Seine Frau kommt, glaube ich, aus der kambodschanischen Königsfamilie …« Tyrone machte eine Pause. »Und dann wäre da noch seine Tochter, Madame Tek. Eine Nummer für sich. Deine angehende Schwiegermutter sollten wir in keinem Fall vergessen, Mann.« Tyrone lachte leise in sich hinein. »Sie mag vielleicht nur zehn Zentimeter groß sein, wahrscheinlich könnte sie unter einem Wiesel durchgehen, aber ich kann dir sagen. Diese kleinen Khmer-Frauen, sie wai en und scharwenzeln und kochen dir brav deine Nudeln, aber komm ihnen nur ein einziges Mal quer …« Er schnippte mit einer imaginären Schere. »Schwupp.«
Jake zuckte zusammen. Tyrone griff nach einer Speisekarte.
»Langsam kriege ich Hunger. Du nicht auch? Eigentlich müsstest du völlig ausgehungert sein. Wahrscheinlich hast du dich ein paar Tage lang von nichts als Bienen ernährt. Stimmt’s? In Laos? Ist doch zur Abwechslung mal gar nicht so übel.« Tyrone drehte sich zu einem Kellner. »Für mich einen Burger, bitte. Englisch. Aber richtig englisch, ja? Aw kohn! «
»Ich nehme das … das pad thai . Egal was. Danke. Aw kohn .« Jake reichte die Speisekarte einem Kellner, der einen wai machte, bevor er in die Küche verschwand.
Tyrone schwieg eine Weile, dann wandte er sich wieder Jake zu.
»Da wäre noch etwas, was mir Sorgen macht. Deine Story.«
»Wieso?«
»Etwas, was du nur ganz nebenbei erwähnt hast.«
»Ja, was?«
Der Mond hinter Tyrone war von einem kränklichen Gelb.
»Jake. Du hast gesagt, diese Polizeiautos, die euch verfolgt haben – eins ist auf eine Bombe oder Mine gefahren.«
»Ja.«
»Und dabei wurden doch sicher ein paar Polizisten verletzt – wenn nicht sogar getötet?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe sie aus dem Auto springen sehen. O Gott. Klar … natürlich.«
Die hässliche Realität dämmerte Jake. Das Polizeiauto, das in die Luft geflogen war. Jetzt, wo er genauer darüber nachdachte, war es ganz offensichtlich. Das würde Ärger geben. Sogar gewaltigen Ärger. Das würden die laotischen Behörden nicht einfach auf sich beruhen lassen. Auf gar keinen Fall.
Tyrone fasste zusammen: »Vielleicht ist ein Polizist ums Leben
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