Bibel der Toten
den berühmten Steingärten in den Zen-Klöstern von Kyoto nachempfunden. Sie haben sie doch sicher schon gesehen, oder?«
»Nein, ich war noch nie in Japan.«
»Dann müssen Sie unbedingt einmal hinfahren, unbedingt! Ich habe geschäftlich regelmäßig in Japan zu tun. Die Zen-Tempel von Kyoto sind einzigartig. Der Ryoanji. Der Silberne Pavillon. Der Nanzen-ji. Deshalb mein Garten hier.« Er hob bescheiden die Hand. »Das Grundprinzip des Zen-Gartens ist größtmögliche Abstraktion. Je mehr man weglässt, desto mehr erhält man. Und das ist die wahre Genialität der japanischen Kultur; sie sieht die Schönheit im Weglassen. Abstraktion ist gleich Perfektion. Ein Haiku besteht nur aus einigen wenigen Silben. Die japanische Küche basiert auf Reinheit und Unverfälschtheit. Und der japanische Zen-Buddhismus – das ist die großartigste Religion überhaupt. Warum? Weil es keinen Gott gibt, weder Himmel noch Hölle, keinen Aberglauben, rein gar nichts.«
Treffenderweise wurde dieser Vortrag mit Schweigen beendet. Doch Jake musste es brechen, er musste etwas sagen.
»Herr Sovirom, zuallererst möchte ich Ihnen danken, dass Sie uns in Laos aus der Patsche geholfen haben. Das Flugzeug, die Soldaten.«
Der Patriarch lächelte gedankenversunken. »Das ist doch nicht der Rede wert.«
»Und ich hätte da ein paar Fragen an Sie.«
»Nur zu. Soweit es mir möglich ist, werde ich sie Ihnen gern beantworten. Ich bin sehr gut im Bild über alles, was passiert ist. In Phonsavan. In Luang. Für Sie muss das alles ziemlich unverständlich sein. Dafür möchte ich mich auch bei Ihnen entschuldigen.«
»Gut …«
»Ich kann Ihnen gern alles erklären. Wenn Sie gestatten.«
»Bitte, gern.«
Chemdas Großvater begann ruhig, aber sehr bestimmt zu sprechen.
»Meine Tochter, Madame Tek, ist eine kluge und gebildete Frau – genau wie ihre Tochter. Aber leider muss ich auch sagen, Jacob, dass sie in vielen Dingen sehr gegensätzliche Auffassungen vertreten. Madame Tek ist zum Beispiel der Ansicht, dass Chemdas Vorhaben, die tragische Vergangenheit Kambodschas aufzudecken, vorsichtig ausgedrückt, alles andere als wünschenswert ist. Sie findet, man sollte die Gebeine der Killing Fields ruhen, sie einfach in Frieden verwesen lassen. Warum die Särge aufbrechen, die Gräber öffnen? Warum mit den Schädeln der Toten herumtanzen wie die Mexikaner, wenn sie zu viel Tequila getrunken haben?«
»Ich … weiß nicht.«
»Nun, es gibt eine Antwort. Meine eigensinnige Enkelin mit ihrer amerikanischen Erziehung würde sagen, dass wir uns als Nation nicht ›entwickeln‹ können, wenn wir unsere Vergangenheit nicht aufarbeiten. Dieses Argument entbehrt keineswegs einer gewissen Berechtigung. Vielleicht sollten wir den Kopf Kalis, der Schlange, betrachten. Ich persönlich habe weiß Gott keine guten Erinnerungen an die Schreckensherrschaft der Roten Khmer. Vielleicht habe ich mich mit diesen Erinnerungen nicht genügend auseinandergesetzt.«
In einem Anfall von Tollkühnheit fragte Jake:
»Spielen Sie damit auf Ihre Frau an? Wir wissen, es ist etwas Schreckliches mit ihr passiert.«
Der alte Herr antwortete vollkommen ruhig.
»Allerdings. Wir wissen nicht genau, was mit ihr passiert ist. Oder warum es passiert ist. Aber was wir wissen, ist, dass sie ein Experiment mit ihr durchgeführt haben, mit ihrem Körper und mit ihrem Geist. Am ehesten könnte man vielleicht von einer Gehirnwäsche sprechen.«
»Ihre Frau hat sich freiwillig für dieses … äh … Experiment zur Verfügung gestellt? Haben wir jedenfalls gehört.«
Großvater Sen blickte auf die konzentrischen Kreise aus Sand.
»Das war ganz offensichtlich der Fall. Und es leuchtet auch durchaus ein. Dazu müssen Sie wissen, dass meine Frau an dieses absurde Regime geglaubt hat; sie war eine hundertprozentige Kommunistin. Sie hat die Roten Khmer vorbehaltlos unterstützt.«
»Warum?«
»Um das verstehen zu können, müssen Sie sich darüber klar werden, dass damals viele Leute an das neue Regime geglaubt haben. Weil sie daran glauben wollten. Die Amerikaner haben uns bombardiert. Das Land befand sich in heftigem Aufruhr. Der König wollte es allen Seiten recht machen. Die Vietnamesen haben uns schamlos missbraucht. Der Faschist Lon Nol war an der Macht. Brutal, eigentlich ein Gangster, ein Hurensohn, wie ihn viele nannten. Der Hurensohn der Amerikaner.«
»Und?«
»Deshalb erschienen die Roten Khmer vielen zunächst wie eine Befreiung. Sie waren rein und unverdorben.
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