Bibel der Toten
grüne Rasenfläche und ging auf die imposante Eingangstür zu.
Dahinter erschien ein barfüßiges junges Hausmädchen, süß und unschuldig in seiner Dienstkleidung; es machte einen unterwürfigen wai , blickte aber auch nervös an die Decke. Jake merkte rasch, was der Grund für die Verlegenheit des Mädchens war. Aus dem Innern des Hauses kam wildes Geschrei.
Zwei Frauenstimmen. Es mussten Chemda und ihre Mutter sein. Chemdas sonst so sanfte Stimme war laut und schrill. Dann eine ältere Frau, die zurückkeifte. Was sagten sie? Selbst wenn Jake Khmer verstanden hätte, hätte er dem hitzigen Wortwechsel wahrscheinlich nicht folgen können.
Das Hausmädchen errötete, sagte nichts und blickte peinlich berührt nach links und nach rechts. Dann führte sie Jake einen breiten Gang hinunter und in einen großen, ganz in Weiß gehaltenen Salon. Das Haus war riesig. Das Hausmädchen entfernte sich, und Jake war allein – allein mit den lauten Stimmen im Obergeschoss.
Er wusste nicht, was tun – sich einmischen? Auf keinen Fall. Das war etwas Privates, eine Familienangelegenheit, aus so etwas hielt man sich besser heraus. Aber hatte er überhaupt die Wahl, sich nicht einzumischen? Was war, wenn der Streit eskalierte? Verwirrt und unschlüssig setzte sich Jake in einen modernen Ledersessel und blickte sich in dem riesigen Raum um.
Er war sonnig und hell und mit Antiquitäten eingerichtet. In einer Ecke stand ein Garuda, eine rote Sandsteinfigur der mit Flügeln und einem Schnabel versehenen Hindu-Gottheit – wie ein stummer, gehäuteter Opernsänger. Zu dem Garuda gesellte sich der massive steinerne Kopf einer Naga, einer hinduistischen Schlangengottheit, die einen riesigen Samsung-Fernseher anzischte. Hinter den Antiquitäten blickte man auf eine hohe, breite Fensterwand, die sich auf einen Garten mit grauem Sand, kleinen Bäumen und runden grauen Felsen öffnete.
Der Streit im Obergeschoss wurde lauter. Jake starrte den Garuda an. Sein steinerner Mund brüllte ihn stumm an, als versuchte er, die von oben kommenden Schreie zu artikulieren wie ein Bauchredner. Die gewaltigen steinernen Schwingen der Gottheit hatten etwas Fledermausartiges. Ein fliegender Dschinn, zu heraldischer Grausamkeit erstarrt.
Das Gezänk ging mit unverminderter Heftigkeit weiter.
Sich innerlich wappnend, stand Jake auf. Er musste einschreiten und die zwei Frauen trennen. Doch gerade als er die Tür erreichte, wurde sie von außen geöffnet.
Ein Mann in einem beigen Leinenanzug kam herein. Ein kleiner alter Asiate mit gelblichem Teint. Aus Zeitung und Fernsehen erkannte Jake in dem Mann sofort Sen wieder, Sovirom Sen, den Geschäftsmann, den Bankier, den Freund von Premierministern, den Vertrauten Sihanouks.
Der Patriarch.
Jake fiel ein Stein vom Herzen. Jetzt konnte jemand anders intervenieren und den Streit beilegen.
Großvater Sen lächelte und legte einen Finger an seine Lippen. Dann deutete er an die Decke und sagte:
»Ich finde, cherchez la femme ist ein ziemlich dummer Spruch. Frauen sind nun wirklich nicht schwer zu finden. Sie sind immer hörbar.«
Jake wusste nicht, was er darauf entgegnen sollte; Sen schüttelte ihm herzlich die Hand.
»Bitte. Ich bin Chemdas Großvater. Und Sie sind natürlich Jake Thurby. Meine Enkelin lässt sich jeden Abend in aller Ausführlichkeit über Sie aus.« Ein kaum merkliches Zögern. Ein Lächeln. »Was meinen Sie? Sollen wir in den Garten gehen? Frauen sind wie das Wetter. Ihre Stimmungen sind wie tropische Tiefdruckzonen. Wir müssen nur warten, bis sich das Unwetter verzogen hat.«
Im Freien, und nachdem sich die Glastür hinter ihnen geschlossen hatte, war das Gezänk Chemdas und ihrer Mutter kaum mehr zu hören. Auf einem schmalen Weg ging Sen zu einer Art Pavillon mit Holzbänken und karmesinroten Seidenkissen, von dem aus man auf den Sand und die sorgfältig arrangierten Felsen und die hellgrünen kleinen Bäume schaute.
»Bitte, Mr Thurby. Nehmen Sie doch Platz.«
Jake setzte sich auf eine Holzbank. Sen lächelte und betrachtete den kunstvoll gerechten Sand. Jake fiel auf, dass Sen sehr edle Schuhe aus fein genarbtem Leder trug. Wahrscheinlich maßgefertigt, in London oder Paris.
Eine Pause.
Sovirom Sen beugte sich kaum merklich zu Jake vor und sagte: »Dieser Garten ist … meine große Leidenschaft.«
Jake wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er versuchte es mit einer feingeistigen Bemerkung. »Er ist wirklich sehr schön. Japanisch, nicht?«
»Natürlich. Er ist
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