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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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Nicht korrumpierbar. Natürlich war uns aus den Teilen des Landes, in denen sie bereits an der Macht waren, schon so manches zu Ohren gekommen. Berichte von zahllosen Morden. Von grauenhaften Massakern. Doch diese Meldungen kamen von der CIA. Und als sie sagten: ›Die Roten Khmer werden eure Väter und Mütter und eure Schwestern und Töchter ermorden‹, glaubten wir ihnen diese Gräuelgeschichten nicht.« Sen blickte fast sehnsüchtig auf seinen Garten. »Und doch … in meinem tiefsten Innern habe ich diese Geschichten geglaubt. Ich kannte einige der Rote-Khmer-Führer aus Paris, zumindest dem Erzählen nach. Ieng Sary, Khieu Samphan, Hou Youn. Alles hervorragende Wissenschaftler, jeder von ihnen – und zugleich absolut fanatische Ideologen. Ich hatte von Anfang an den Verdacht, dass sie zu … extremen Maßnahmen greifen würden.«
    »Warum haben Sie nichts unternommen?«
    »Meinen Sie, meine Familie aus Kambodscha geholt?« Sen lächelte bitter. »Ich bin kambodschanischer Chinese, aber meine Frau, sie war reine Khmer, dunkle Khmer, königliche Khmer, Tochter einer Konkubine am Hof König Monivongs. Sie hätte das Land nie verlassen. Außerdem hat sie die Roten Khmer, wie gesagt, unterstützt; selbst dann noch, als die Mönche bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Selbst als sie die Reisfelder mit der Asche der Bourgeoisie gedüngt haben.«
    »Und dann hat man sie … nach Laos gebracht.«
    »Sie war Wissenschaftlerin. Die Regierung sagte, sie bräuchten sie. Ich ließ sie gehen. Und dann hörte ich, dass sie ihnen erlaubt hatte, diese seltsame Hirnoperation an ihr vorzunehmen, einen dieser experimentellen Eingriffe, für den sie sich freiwillig zur Verfügung stellte – hieß es zumindest …«
    »Wann haben Sie das alles herausgefunden?«
    Sen verfiel in Schweigen und betrachtete die Felsen und die winzigen Bäume. Der graue Sand des Zen-Gartens veränderte sich in dem schwachen Wind, der vom Fluss heraufwehte. Er wisperte wie in unruhigem Schlaf.
    Schließlich fuhr der alte Herr fort: »Neunzehnhundertachtzig, nach dem Einfall der Vietnamesen, lebte ich wie ein einfacher Bauer in der Nähe von Battambang. Wie alle anderen hatte ich kaum etwas zu essen. Aber trotz des ständigen Hungers habe ich überlebt. Und dann kam sie aus Laos zurück, aus der Ebene der Tonkrüge. Doch sie war nur noch … eine sabbernde Marionette, eine lebende Tote.« Seine entspannte Miene wich einem gequälten Stirnrunzeln. »Trotz aller Widrigkeiten kämpften wir uns weiter durch. Diese Jahre waren ohnehin sehr schmerzlich, da war das nur eine zusätzliche Erschwernis. Aber wie durch ein Wunder hatte sie die Segnungen Pol Pots und Ta Moks überlebt – sie hatte ihre Religion der Massenvernichtung und des Hasses, ihren Gott des Rauches und der Asche überlebt. Doch schon bald stellte sich heraus, dass das, was sie mit ihr, aus welchem Grund auch immer, in Laos angestellt hatten, nicht rückgängig zu machen war.« Sen berührte mit der Fingerspitze seine Stirn und schloss die Augen.
    »Zu diesem Zeitpunkt waren meine Tochter und ihr Mann bereits nach Amerika geflohen, wo Chemda auf die Welt kam. Sie wenigstens waren in Sicherheit. Ein pikantes Paradox. Zuerst versuchte uns Amerika zu vernichten, dann rettete es uns. Ach ja … Amerika mit seinen unzähligen Widersprüchen, so großzügig und so verrückt.«
    »Und Sie?«
    »Ich blieb hier. Ich war stolz. Ich bin stolz. Ich bewahrte Schweigen. Und ich beschloss, diese leere Hülle, dieses Geschöpf, das einmal meine Frau gewesen war, nach Luang zurückzuschicken. Ich schickte sie zu unseren guten Freunden, den Marconnets, damit sie die ihr noch verbleibenden Jahre im schönen Luang Prabang im Schatten der Papayabäume verbringen konnte, in Chieng dong Chieng thong, der Stadt des Goldenen Buddha. Dazu müssen Sie wissen, dass meine Frau Luang Prabang immer sehr gemocht hatte. Es war emotional das einzig Richtige. Und ich erzählte keinem Menschen, dass sie zurückgekommen war. Wir wollten nicht, dass man sich über sie lustig machte, dass sie in Phnom Penh als Affenfrau, als Rauchfrau, als eine der araks brai verhöhnt würde. Meine stolze Frau hätte auf gar keinen Fall gewollt, dass jemand sie in diesem Zustand sähe. Sabbernd, in einem Rollstuhl sitzend. Und wir wollten nicht, dass jemand etwas von ihrer Schande erführe; dass sie sich freiwillig für diese grauenhafte Operation zur Verfügung gestellt, dass sie sich selbst dafür entschieden hatte, in eine lebende Leiche

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