Bibel der Toten
verwandelt zu werden.«
Der Wind ließ nach. Die Stille war allgegenwärtig. Sen fuhr murmelnd fort: »Jetzt kennen Sie die Geschichte. Die ganze Geschichte. So war es.«
Jake spürte den Schmerz des alten Mannes; er war sengend und dennoch sichtbar. Aber trotzdem machte Sen einen starken und ungebrochenen Eindruck. Ein wahrer Überlebender.
Jake dachte an seine eigene Schuld, seinen eigenen Schmerz, die tiefe Trauer, die nie ganz von ihm ließ, die heimtückische Reue für etwas, was er versäumt hatte: seine Schwester festzuhalten, seine Mutter ihrer Verzweiflung zu entreißen. Wenn Sovirom Sen es geschafft hatte, diese wesentlich schlimmeren Schicksalsschläge zu überleben, konnte Jake die seinen mit Sicherheit ertragen. Er musste an den Spruch aus dem Rote-Khmer-Tribunal denken, den Ty zitiert hatte: Der einzige Ausweg ist, dass man zu überleben versucht.
Aber waren Chemda und er wirklich davongekommen? Und wie hatten sie überlebt? Wie hatten sie Laos überlebt?
»Herr Sovirom …«
»Sen. Nennen Sie mich doch einfach Sen.«
»Gut, Sen. Können Sie mir vielleicht auch sagen, wo wir da reingeraten sind in Laos? Chemda und ich? Oder die zwei alten Professoren?«
Der Patriarch sah Jake lächelnd an. »Wir vermuten, dass Rote-Khmer-Sympathisanten, die immer noch in der Regierung in Phnom Penh sitzen, Chemdas Nachforschungen mit allen Mitteln zu sabotieren versuchen. Diese alten Seilschaften haben auch schon das Tribunal zu torpedieren versucht, was ihnen aber zum Glück nicht gelungen ist. Und jetzt versuchen sie, Chemdas Nachforschungen in der Ebene der Tonkrüge zu vereiteln. Sie müssen den beiden Professoren so massiv gedroht haben, dass sie sich möglicherweise selbst umgebracht haben; auf jeden Fall arbeiten diese Leute mit den Pathet Lao zusammen, den kommunistischen Genossen von damals, die in Vientiane immer noch an der Macht sind.«
»Dann ist also alles, was in Luang passiert ist …«
»Als Madame Tek und ich vom Tod Professor Samnangs erfuhren, war uns sofort klar, dass Chemdas Leben in Gefahr wäre, wenn sie ihre Untersuchungen in Laos – oder auch hier in Kambodscha – fortsetzen würde. Aber Chemda ist unglaublich stur. Wir waren uns von vornherein einig, dass sie erst recht bleiben würde, wenn Druck auf sie ausgeübt würde, das Land wieder zu verlassen.«
Das stimmte. Jake kannte Chemdas Hartnäckigkeit bereits zur Genüge. Sie war einer der Gründe, weshalb er sie so sehr bewunderte.
»Aber tote Babys ? Finden Sie das nicht auch ein wenig übertrieben?«
Ein welker Baum raschelte im fast lautlosen Luftzug.
»Meine Tochter und meine Enkelin sind beide sehr gebildete Frauen, aber wie alle Khmer – und die meisten Asiaten grundsätzlich – sind sie auch sehr, sehr abergläubisch. Woran das liegt? Das ist etwas, was ich mich oft gefragt habe. Und ich habe auch schon alles Mögliche dagegen zu unternehmen versucht: gegen die Exorzismen, die Weissagungen, diese lachhaften Tattoos.« Er schüttelte den Kopf. »Wie dem auch sei, Madame Tek glaubt genauso fest wie Chemda an die Macht der Khmer-Magie. Deshalb hat Madame Tek beschlossen, ihrer Tochter mit den grausigsten Talismanen, die es im Khmer-Okkultismus gibt, einen gehörigen Schreck einzujagen. Mit den kun krak . Den geräucherten Feten.« Er zog die Stirn in Falten. »Madame Tek wusste, dass Chemda völlig aus der Fassung geraten würde, und wie Sie selbst gesehen haben, hat ihr Plan auch funktioniert. Allerdings nur bis zu einem bestimmten Punkt.«
»Inwiefern?«
»Sie haben Laos zwar fluchtartig verlassen, aber Sie befinden sich immer noch in ernster Gefahr, Jacob. Und dasselbe gilt für meine Enkelin.«
»Was sollten wir Ihrer Meinung nach tun?«
»Sehen Sie doch selbst, welche Optionen Sie haben. Chemda ist eine schöne junge Frau. Sie ist krangam .«
Der Wind verwehte ein paar Sandkörner. Die Felsen glänzten in der Sonne schwarz.
»J-j-ja. Auf jeden Fall.«
»Die Kombination von chinesischen und königlichen Khmer-Genen ist durchaus vielversprechend. Außerdem ist meine Enkelin sehr intelligent, und sie ist unverheiratet. Sie ist eine gute Partie.«
Darauf fiel Jake nichts mehr ein.
»Ich weiß, Jacob, dass sie Ihnen außerordentlich zugetan ist.« Sen machte eine elegante Geste. »Aber um die guha einzugehen, müssen Sie das Land verlassen, sie nach England – oder nach Amerika – mitnehmen; sie hat einen amerikanischen Pass. Sie müssen das Land verlassen, denn Sie sind beide in Gefahr, und ich kann Sie hier
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