Bibel der Toten
trostlosen, stinkenden Betonzellen gesehen, in denen Frauen und Kinder mit Schlagstöcken vergewaltigt worden waren oder ohne Narkose ihre Organe aus dem Leib geschnitten bekommen hatten. Tuol Sleng. Der Hügel der giftigen Bäume. S-21.
Siebzehntausend Menschen waren in Tuol Sleng eingeliefert worden. Und zwölf hatten überlebt.
Nur zwölf Überlebende, von siebzehntausend.
Ein weiterer Zettel von Ponlok. Der Hausmeister reichte ihn Jake.
Nein. Nicht Tuol Sleng. Ein geheimer Ort. S-3 7. Kommen Sie mit?
Ponlok führte sie vom Foltergarten fort. Jake atmete erleichtert auf. Sie mussten sich nicht den neugierigen Blicken der Besuchermassen und der Touristenpolizei von Tuol Sleng aussetzen.
Aber wohin würde Ponlok sie bringen? Der stumme Hausmeister führte sie eine schmale Gasse hinunter, deren Boden glitschig war von verfaulenden Früchten; überall lagen aufgedunsene, stinkende Müllsäcke herum. Die Gasse krümmte sich, führte fast wieder an ihren Ausgangspunkt zurück und verengte sich zu einem langen, dachlosen Durchgang aus Beton, in dem sie immer wieder über modernde Abfallhaufen steigen mussten.
Jakes Augen begannen von dem Gestank und der schlechten Luft zu brennen. Ein Schwarm schwarzer Fliegen umschwirrte eine leere Royal-Ginseng-Bierflasche; an seinem Hosenbein war ein Stück Bananenschale kleben geblieben. Chemda hielt sich wegen des Gestanks die Nase zu.
Auf dem Marsch durch den widerlichen Hindernisparcours war Ponloks Kappe verrutscht, und die Narbe auf seiner Stirn wurde sichtbar. Jake hatte Mühe, sich seinen Ekel nicht anmerken lassen, als der stumme Hausmeister sie, leise vor sich hin brabbelnd, durch dieses Labyrinth aus Müll führte.
Endlich weitete sich der enge Durchgang. Auf einem Abfallhaufen lag ein toter Hund, von dem unerklärlicherweise Rauch aufstieg. Irgendjemand hatte im Kopf des Hunds, wie bei einem Experiment, ein kleines Feuer entzündet. Jake wandte den Blick ab und schaute unverwandt nach vorn.
Die Gasse endete an einem verfallenen Betonbau mit einem kleinen Vorplatz aus schuttübersäter blanker Erde. Auf den ersten Blick war es nur eine weitere von Phnom Penhs zahllosen Ruinen. Aber das war kein verlassener Slum und kein entkerntes Wohnsilo. Das war S-37.
Das desolate Gebäude war umgeben von Bambusgestrüpp, hohem Gras und kleinen Hügeln aus matt glänzenden Autoteilen, Radkappen und zerbrochenen Fenstern. Der dachlose Bau hatte die Größe einer Einzelgarage. In seiner Mitte rostete ein eisernes Bettgestell einsam vor sich hin.
Daneben standen zwei Metallschränke; die Schübe waren alle herausgezogen und leer. Nur eine zerbrochene, verdreckte alte Spritze, die auf dem Boden lag, deutete darauf hin, dass dieser Ort einmal medizinischen Zwecken gedient haben könnte.
»Wurden hier die Experimente durchgeführt?«, fragte Chemda.
Ja.
Der stumme Khmer begann zu zittern. Sein Blick war auf Chemda gerichtet, auf ihre nackten Beine. Jake wünschte sich plötzlich, sie hätte eine Jeans getragen und nicht den kurzen blauen Rock.
Ihre Großmutter wurde hierher gebracht. Ich weiß. Dann haben sie ihr den Kopf aufgeschnitten, und sie wurde verändert. Für immer. Wie ich. Wie viele aus Ihrer Familie.
Chemda starrte auf den Zettel.
»Auch andere? Aus meiner Familie? Wer noch?«
Sie war sichtlich schockiert. Sie ließ den Zettel fallen, und ihre Lippen begannen zu zittern. Jake ging zu ihr, um tröstend den Arm um sie zu legen, aber sie wehrte ihn ab.
Darauf wandte er sich dem stummen Hausmeister zu.
»Woher wissen Sie das?«
Aber Ponlok hörte ihn nicht, er starrte auf Chemdas Beine. Er machte einen Schritt auf sie zu, blieb stehen. Von einem inneren Zwiespalt hin und her gerissen, begann er am ganzen Körper heftig zu zittern. Er kritzelte etwas auf seinen Block und reichte den Zettel Jake.
Sie müssen gehen. Sie machen mich.
»Wozu? Wozu haben sie Sie gemacht?«
Wieder beugte sich Ponlok über seinen Block. Jake konnte die ausgemergelte Hand des Manns beim Schreiben zittern sehen.
Der Hausmeister reichte ihm den Zettel.
Sie haben mich zu dem gemacht.
»Zu was? Ponlok? Zu was?«
Ponlok sah Jake direkt an, und in seine traurigen alten Augen traten Tränen. Aber sie hatten nicht wirklich etwas Menschliches. Eher war es die Traurigkeit eines geprügelten Hunds, eines sterbenden Tiers. Einer leidenden Kreatur. Eines stummen, nicht vollständig entwickelten Geschöpfs.
Ponloks Mund begann sich zu bewegen. Kaute, spuckte er? Was wollte er? Mit einem jähen
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