Bibel der Toten
Teufel hatte sie erkannt. Ihre Lage war aussichtslos. Überall standen sie unter Beobachtung. Sogar die blöden Jackfruchtbäume beobachteten sie. Nirgendwo in diesem Land schien es Schatten zu geben. Jeder noch so kleine Fleck war schutzlos Hitze und Gefahr ausgesetzt.
Der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter wie kribbelnde Beine eines Skorpions; das Kitzeln der Angst auf seiner Haut. Er wollte in die Wohnung zurück.
Endlich reichte der Hausmeister Chemda den nächsten Zettel.
Ich habe Sie gestern in die Wohnung gehen sehen, ich habe Sie beobachtet. Ich weiß, wer Sie sind, Chemda Tek. Denn Sie sind berühmt und bei der UNO, und Sie sind die Enkelin von Sovirom Sen. Jeder weiß, wer Sie sind. Aber ich weiß noch mehr. Ich kannte Ihre Großmutter. Ich habe gesehen, wie sie nach Tuol Sleng und dann nach S-37 gebracht wurde. In Laos haben sie ihr nichts getan. Sie haben es hier getan. Sie haben sie hierher zurückgebracht und hier ihre Experimente gemacht. Ich kann es Ihnen zeigen. Ich erinnere mich an einiges.
Chemda hakte sofort nach: »Diesen Ort würde ich gern sehen. Jetzt gleich.«
»Warte …« Jake legte seine Hand auf ihre zarte braune Schulter. Sie trug ein dunkelblaues Unterhemd. Ihre Haut war dunkel und glatt. Er konnte sich noch lebhaft erinnern, wie sie nackt über ihn gebeugt gewesen war und der Mann durch das Fenster gespäht hatte.
»Können wir ihm trauen?«
Chemda schüttelte frustriert den Kopf; Jake flüsterte ihr ins Ohr.
»Ich weiß, er hat Informationen, Chem, und ich weiß, dass er mir leidtut. Aber sieh ihn dir doch mal an! Außerdem könnte er hinterher sofort zu deinem Großvater gehen. Und er hat am Fenster gestanden und uns zugesehen.«
Ponlok wartete wie ein Diener, wie ein Mann, der es gewohnt war, herumkommandiert, schikaniert und verächtlich behandelt zu werden. Die Roten Khmer hatten einen Sklaven aus ihm gemacht.
Chemda antwortete leise:
»Er ist nur gekommen, um mit uns zu reden! Hm? Er hat nichts Böses getan. Und was sie mit diesem armen Teufel gemacht haben«, sie deutete auf Ponlok, »haben sie auch mit meiner Großmutter gemacht. Vielleicht kann er uns etwas erzählen. Ich will mehr wissen. Das ist unsere Chance. Und außerdem müssen wir irgendetwas tun, nachdem er uns gesehen hat. Wir müssen ihn auf unsere Seite bringen und irgendwie davon abhalten, dass er zu meinem Großvater geht.«
Sie hatte recht. Und es war ihr nicht zu verdenken, dass sie etwas über das Schicksal ihrer Großmutter erfahren wollte.
»Wenn du nicht mitkommen willst, kann ich auch allein mit ihm gehen«, sagte Chemda. »Du kannst gern hierbleiben.«
»Das ist doch wohl nicht dein Ernst?«
Eine Minute später kletterten sie hinter dem kleinen, leicht hinkenden Khmer mit der Baseballkappe die Feuerleiter hinunter.
Sie gingen hundert Meter eine schmale Durchfahrt entlang und erreichten eine belebte Straße. An der Ecke stand ein Geisterhäuschen mit Opfergaben: kleine Eierbecher mit dunkler Fischsoße.
Jake überließ Chemda das Reden und hörte zu, wie sie dem Hausmeister erklärte, warum er niemandem, nicht einmal ihrem Großvater, verraten dürfte, dass Jake und sie in der Wohnung Unterschlupf gesucht hatten. Obwohl sich Ponlok langsam für ihre Argumente zu erwärmen schien, glaubte Jake nicht, dass sie sich auf seine Verschwiegenheit verlassen konnten; das Risiko, dass er sie verpfiff, war zu groß. Ihnen blieb keine andere Wahl. Sie durften auf keinen Fall in Phnom Penh bleiben und mussten sich irgendwo auf dem Land verstecken.
Aber wo sollten sie untertauchen?
Jake blickte nach Westen, die laubübersäte Vorstadtstraße hinunter, und dachte über mögliche Fluchtwege nach, über Orte, an denen sie sich verstecken könnten. Und während er noch abwesend die Straße hinunterschaute, fuhr er plötzlich heftig zusammen, als hätte sich eine eiskalte Hand auf seinen Nacken gelegt.
Er merkte plötzlich, wo er war. Der klotzige, schmutzige Betonbau am Ende der Straße war nicht zu verwechseln. Deshalb war ihm die Gegend bekannt vorgekommen.
Tuol Sleng.
Sie waren in unmittelbarer Nähe von Tuol Sleng, dem berüchtigten Gefängnis des kambodschanischen Terrorregimes.
Am Ende der Straße stand ein Bus, aus dem eine Reisegruppe stieg. Touristen auf einer Massenvernichtungsrundfahrt. Auch Jake hatte an so einer Sightseeingtour teilgenommen, als er zum ersten Mal in PP war. Er hatte die Eisenbetten gesehen, auf denen Menschen mit Stromkabeln ausgepeitscht worden waren; er hatte die
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