Bibel der Toten
brennend heiß wie das Wasser an ihr herunter. War sie tatsächlich feige?
Sie war in ihrem Leben bisher in fast allem zu sehr auf Sicherheit bedacht gewesen. Sie hatte sich mit einem sicheren Job an einer mittelmäßigen Londoner Universität abgefunden. Ihr Zuhause war eine Durchschnittswohnung in einem durch und durch langweiligen Vorort. Sie führte das risikofreie Leben eines ewigen Einzelkinds und passte immer auf, dass die Männer, auf die sie sich einließ, für eine richtige und potenziell schmerzhafte Beziehung nicht in Frage kamen. Wie Alex eben.
Julia stieg aus der Dusche, trocknete sich rasch ab und begutachtete sich im Spiegel.
Der Anblick ihrer Nacktheit weckte häufig zwiespältige Gefühle in ihr. Sobald sie sich ihrer Sexualität bewusst wurde. Ihrer Brüste, ihrer Haut, ihres blonden Haars. Rein rational wusste sie, dass Männer sie attraktiv fanden. Manchmal. Aber sie war sich nicht immer sicher, warum; vielleicht wollte sie das auch gar nicht wissen. Lag das alles an Sarnia, an dem, was dort passiert war? Dieses Leugnen ihrer eigenen Attraktivität, damit so etwas nicht noch einmal passierte? Mit Alex hatte sie allerdings zu einer gewissen Lockerheit zurückgefunden; und mit einigen anderen Männern ebenfalls. Aber das waren immer Männer, die sich verschmerzen, entschuldigen oder wegargumentieren ließen. Männer, die sie nicht zu arg verletzen konnten, wenn ihr Interesse an ihr plötzlich nachließ. Sie war zutiefst ängstlich in ihrer Wahl. Oder etwa nicht?
Julia hielt inne. Der Spiegel war beschlagen. Sie wischte ihn mit einem Zipfel des Handtuchs trocken und betrachtete ihr nasses blondes Haar, ihr wahres Gesicht. Ohne Make-up.
Wie sehr hingen ihre Furchtsamkeit, ihr Mangel an Selbstwertgefühl und echtem Selbstbewusstsein mit ihrer stockenden Karriere zusammen? Zu sehr vielleicht. Und doch sah die Sache jetzt anders aus. Sie hatte zum ersten Mal etwas entdeckt. Die Schädel. Prunières. Und sie hatte – oder etwa nicht? – Hartnäckigkeit bewiesen, als sie der Sache nachgegangen war. Sie hatte sich oben auf der Cham nicht von Ghislain einschüchtern lassen. Sie hatte sich geweigert, einfach klein beizugeben und nach London zurückzukehren. Stattdessen war sie nach Paris gefahren, um die Sache weiterzuverfolgen.
Und noch immer stärkte ihr dabei die Idee, die ihr zu den Schädeln und den Megalithen gekommen war, den Rücken. Schuld. Das war ihre Idee, ihre Einsicht, ihre Forschungshypothese. Ganz allein ihre . Vielleicht war sie also doch nicht so furchtsam. Vielleicht hatte sie die Durchsetzungskraft, die in ihr steckte, selbst überrascht und ihr zu ungeahnten Energien verholfen. Vielleicht war sie immer noch das unbeirrbare Mädchen, das seine Koffer gepackt hatte und trotz aller Einwände seiner Eltern nach Montreal gefahren war; immer noch die talentierte, von der Höhlenkunst faszinierte Achtzehnjährige, die an der McGill zu studieren begonnen hatte.
Sie trocknete die letzte Feuchtigkeit von ihrer Haut. Energisch. Sie würde nicht klein beigeben, nicht jetzt. Zudem war sie in diese Morde, in diese Kette mysteriöser Vorfälle verwickelt, ob es ihr nun passte oder nicht. Und sie wusste, dass zwischen diesen zwei Ereignissen in ihrem Leben ein Zusammenhang bestand. Die Morde hatten etwas mit den Schädeln zu tun. Aber was genau? Trotz aller Entschlossenheit stellte sie die Komplexität des Sachverhalts auf eine schwere Probe.
Sie zog sich an und ging zielstrebig in die Küche. Sie war bereit für den neuen Tag. Alex, locker und entspannt wie eh und je, saß bereits am Tisch. Trank seinen Kaffee, aß seine Croissants und las sehr langsam Le Monde , um sein Französisch zu verbessern, was ihm jedoch nicht unbedingt gelang.
So waren während des Sommers schon viele Morgen verlaufen. Manchmal hatte dieses Ritual etwas Tröstliches; im Moment fand es Julia allerdings frustrierend zäh.
»Bitte, Alex, mach endlich. Ist ja nicht auszuhalten, dieses Getrödel. Komm schon.«
Er legte die Zeitung beiseite.
»Jetzt gleich?«
»Jetzt gleich!«
Eine Stunde später waren sie in einem Taxi nach St. Denis unterwegs, einem vulgäreren Teil im Norden von Paris, nicht dem Paris Haussmanns und der Boulevards. Das war das Paris der Banlieues – wörtlich der »Orte der Verbannung« –, das Paris der arbeitslosen algerischen und marokkanischen Kids, das Paris von Couscous und muslimischen Rappern und nervösen Polizisten in Schutzausrüstung, die mit ihren Einsatzfahrzeugen vor gut
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