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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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unter einer dicken Decke.
    Chemda sprach den Mann auf Khmer an. Er brabbelte nur unverständliches Zeug und deutete kopfschüttelnd auf seinen Mund. »Ich habe keine Ahnung, was mit ihm ist«, murmelte Chemda. »Oder wer er ist. Aber ich würde ihn eher für harmlos halten.«
    Wieder deutete der Mann auf seinen Mund und schüttelte den Kopf.
    Jetzt verstand Jake.
    »Sie können nicht sprechen, richtig? Sie sind stumm?«
    Der Mann nickte.
    »Aber«, fuhr Jake fort, »Sie verstehen Englisch?«
    Der Mann nickte wieder, diesmal mit Nachdruck. Dann fasste er in die Tasche seines Overalls und zog etwas heraus. Jake zuckte zusammen, aber es waren nur ein Notizblock und ein Bleistiftstummel. Der Mann schrieb etwas auf den Block, den er auf sein Knie stützte. Die Szene hatte etwas Mitleiderregendes.
    Chemda und Jake tauschten einen Blick. Aus ihren dunklen Augen sprach pure Verständnislosigkeit.
    Der Mann hatte aufgehört zu kritzeln. Er riss das oberste Blatt von seinem Block und hielt es Jake hin, der es an sich nahm und las:
    Ich bin Ponlok, der Hausmeister. Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.
    Das Englisch war gut. Das war höchst eigenartig. Jake zeigte den Zettel Chemda, und sie fragte den Mann:
    »Woher können Sie so gut Englisch? Warum können Sie nicht sprechen?«
    Über die Augen des Mannes legte sich ein feuchter Schimmer; kurz schien es, als füllte sie eine Erinnerung mit Tränen. Jake spürte erneut tiefes Mitleid in sich aufwallen, erstickendes, verstörendes Mitleid.
    Rasch wurde eine weitere Antwort geschrieben. Jake riss dem Mann den Zettel aus der Hand.
    Ich war Lehrer. Englischlehrer. Am Gymnasium. Dann haben die Roten Khmer ein Experiment mit mir gemacht.
    »Was für ein Experiment?«, fragte Jake. »Konnten Sie danach nicht mehr sprechen?«
    Der Hausmeister nickte – bedrückt. Und dann hob er langsam die Hand an seine Mütze und nahm sie ab.
    Darunter kam eine grässliche Narbe zum Vorschein. Aber es war nicht nur eine Narbe, sondern auch eine leichte Vertiefung im oberen Stirnbereich. Als ob sich der Schädel nach innen gewölbt hätte, als ob ein Stück Gehirn entfernt worden wäre und sich ein Krater in der Stirn gebildet hätte – obwohl Haut über die Stelle gewachsen war.
    Es war grauenhaft, und es war bemitleidenswert. Die Schädigung war so massiv, dass das Haar nicht nachgewachsen war und die leuchtend rosafarbene Narbe nackt in ihrer eigenartigen Höhlung glänzte. Kein Wunder, dass der arme Teufel sogar bei dieser mörderischen Hitze eine Mütze trug.
    Der schmächtige Mann setzte die Mütze wieder auf und senkte den Blick zu Boden wie ein Kind, das sich schämte, weil es ins Bett gemacht hatte.
    Erschüttert musste Jake an die Schädel und Knochen in der Ebene der Tonkrüge denken. An die Schädel, die an der gleichen Stelle aufgebohrt waren. Unwillkürlich fiel ihm die alte kambodschanische Weissagung ein: Nur die Tauben und die Stummen werden überleben.
    In Jakes Kopf begannen erste Ansätze einer Erklärung Gestalt anzunehmen. Währenddessen fuhr Chemda mit der Befragung des Hausmeisters fort.
    »Warum haben Ihnen die Roten Khmer das angetan?«
    Das weiß ich nicht. Sie haben mir meine Erinnerungen genommen. Und Teile meines Hirns. Und die Fähigkeit zu sprechen.
    »Wann war das?«
    1976.
    »Haben Sie sich freiwillig für dieses Experiment zur Verfügung gestellt?«
    Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich hoffe nicht. Aber ich weiß, einige haben das getan.
    »Wissen Sie, wo es passiert ist?«
    Ja. Nicht weit von hier. Ich kann es Ihnen zeigen.
    Chemda sagte nichts. Sie sah den Mann nur verständnislos an.
    Ein weiterer Zettel:
    Ich weiß, wer Sie sind. Chemda.
    »Was?«
    Ich habe diesen Job von Ihrem Großvater bekommen. Als er die Wohnungen gebaut hat. Er hatte Mitleid mit mir.
    So verworren das Ganze auch war, diesen Teil der Geschichte verstand Jake. Er hatte selten solches Mitleid verspürt: den Schädel aufgebohrt und einen Teil seines Gehirns entfernt zu bekommen und zu so einem mickrigen, deformierten und hilflosen Häufchen Elend von Mensch gemacht zu werden; Teile seines Hirns wie eine Laborratte einfach in den Müll geworfen zu bekommen.
    Unfassbar.
    Deshalb bin ich heute Morgen hierhergekommen. Um Ihnen alles zu erzählen.
    Chemda sah den mann erstaunt an.
    »Um mir was zu erzählen?«
    Ponlok brauchte sehr lange, um die nächste Antwort zu schreiben. Jake lief der Schweiß den Rücken hinab. Dieser Mann wusste, wer sie waren. Sogar dieser bedauernswerte arme

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