Bibel der Toten
Anfall von Ekel merkte Jake, dass Ponlok zu sprechen versuchte.
»Schschor … Kmmu …«
Es war aussichtslos. Jake schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, aber ich verstehe Sie nicht.«
Ponlok versuchte es noch einmal. »Mevv … kmm.«
Chemda trat auf Ponlok zu und legte ihm die Hand auf die schmale Schulter.
»Bitte. Schreiben Sie es.«
Ponlok sah sie an, und einen Moment standen sie nur betreten schweigend da, doch dann kam der alte Mann Chemdas Bitte nach. Er beugte sich über seinen Block. Diesmal sabberte er beim Schreiben. Über sein Kinn zog sich schamlos eine silbrige Speichelspur, als er mit seiner klauenartigen Hand mühsam die nächste Nachricht kritzelte. Dann rückte er näher an Chemda heran, und sein Mund entgleiste, als er ihr die Hand auf den Arm legte. Und sie streichelte. Flehentlich. Als bettelte er um Nahrung. In der anderen Hand hielt er den Zettel. Chemda nahm ihn und reichte ihn achselzuckend Jake.
Das Gekritzel war so zittrig, dass Jake eine Weile brauchte, um es zu entziffern.
Ich kann nicht anders. Mich zum Tier gemacht.
»Was soll das heißen? Ponlok? Was heißt …«
Jake erkannte die Gefahr zu spät. Ponlok hatte sich bereits auf Chemda gestürzt, und dann ging alles ganz schnell. Der stumme Hausmeister packte ihre nackten Beine. Sie schrie auf. Aber der alte Mann hatte sie bereits zu Boden gestoßen und die Hand unter ihren Rock geschoben. Sein sabbernder Mund stieß gierig auf ihren Hals hinab.
Sofort packte Jake den alten Khmer an den Armen, zog ihn zurück, zerrte an seinem schmutzigen Kragen, riss ihm büschelweise Haare aus – und sah, wie Metall aufblitzte.
Ein Messer. Von irgendwoher hatte Ponlok plötzlich ein riesiges Messer gezogen und fuhr Jake damit blitzschnell quer über die Stirn. Das armselige Häufchen Elend war nicht mehr wiederzuerkennen. Es hatte sich in etwas unvorstellbar Energiegeladenes und Kraftvolles verwandelt.
Kurz raubte Jake der heftige Schmerz die Sicht. Er geriet ins Wanken, schnappte nach Luft. Aus seiner Stirn spritzte Blut; er wischte es hektisch fort und starrte in blinder Wut durch den rot glühenden Schmerz.
Ponlok lag auf Chemda. Ihr zerrissener Slip hing an ihrem Fußgelenk. Mit einer Hand nestelte der Hausmeister seinen Hosenschlitz auf, mit der anderen drückte er Chemda das Messer an die Kehle: so fest, dass ihre dunkle Haut fast weiß wurde. Chemda starrte mit weit aufgerissenen Augen Jake an.
Hilf mir.
Jake war wie gelähmt. Er stand bloß da und starrte auf das Messer an Chemdas Hals. Eine kurze Bewegung, und sie wäre tot.
Oder der stumme Khmer würde sie vergewaltigen. Vor seinen Augen. Auf dem schmutzigen Betonboden von S-37.
20
A lex Carmichael rollte von Julia, ließ sich auf den Rücken plumpsen und steckte sich eine Zigarette an.
Er seufzte wohlig: »Mmm, nicht übel.«
Sie versetzte ihm einen scherzhaften Klaps.
» Nicht übel? Ist das alles, was dir dazu einfällt?«
Er lachte und zog zweimal an seiner Zigarette. Dann löschte er sie in einem benutzten Weinglas vom vergangenen Abend.
»Kaffee, Schatz?«
»O ja, gern.«
Sie beobachtete, wie er die Arme in einen Bademantel stieß und in die Küche verschwand. Wie fühlte sie sich? Sie fühlte sich besser als »Nicht übel«. Vielleicht war sie gerade dabei, sich in ihn zu verlieben. Bisher war ihr Verhältnis rein sexueller Natur, aber auch mit einem gewissen Freizeitcharakter gewesen; in beidseitigem stillem Einverständnis, Freunde mit Vorteilen, wie es bei der Intimität und Intensität einer archäologischen Grabung eben hin und wieder vorkommt, ähnlich wie bei Schauspielern und Schauspielerinnen während der Dreharbeiten.
In der Regel läpperte so etwas in aller Stille aus, wenn die Grabungssaison zu Ende war. Aber Alex entpuppte sich als besser als erwartet. Der Sex war gut, und er war auf eine positive Art männlich, klug, unangepasst und auf eine frivole Art zynisch, die sie zum Lachen brachte, wenn sie dringend lachen musste; er war zweiundvierzig, Engländer und verheiratet, lebte aber anscheinend in Scheidung. Vielleicht gelang es ihr endlich einmal, ihre inneren Hemmschwellen abzubauen und sich der Liebe zu überlassen?
Julia setzte sich auf. Es war zum einen feige, zum anderen war es absurd. Das war der falsche Zeitpunkt, um sich über eine Beziehung Gedanken zu machen – mitten in diesem Chaos.
Sie huschte ins Bad, stellte sich unter die Dusche, drehte an den Edelstahlarmaturen – und schon prasselte die Selbstkritik auf sie ein und lief
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