Bibel der Toten
Tempel.
Chemda setzte sich ihm gegenüber auf einen Holzstuhl. Sie streifte ihre Sandalen von den Füßen. Ihr blauer Baumwollrock war auffallend kurz. Sie sah Jake an. Die plötzliche Intimität der Situation erfüllte ihn mit leichtem Unbehagen – und wieder mit einem Anflug, nein, mit wesentlich mehr als einem Anflug von Begehren. Er wandte den Blick ab.
Das Schweigen war drückend. Trotz der Klimaanlage herrschte Hitze im Zimmer, wie die Schwüle über dem Mekongdelta vor dem Beginn der Regenzeit.
Chemda stand auf, kam auf ihn zu und blieb direkt vor ihm stehen.
»Wenn mich irgendjemand vergibt, dann nur ich und sonst niemand.«
Chemda nahm Jakes Hand und führte sie unter ihren Rock und zwischen ihre Beine, zwischen die weiche Wärme ihrer Schenkel.
Er stand auf und küsste sie. Ihre dunklen Augen flatterten, hingebungsvoll, katzenartig, sinnlich; ihre Zunge, ihre Lippen, ihre Hände packten ihn und zogen ihn ins Schlafzimmer. Sie war eine barfüßig tanzende Apsara, und er wollte verführt werden. Er wollte überwältigen. Er wollte, er wollte einfach nur.
Dunkler Rohzucker. Sie erinnerte ihn an dunklen, süßen, wilden, nicht raffinierten Zucker. Es war etwas Ungestümes in ihren Liebkosungen; sie begehrte ihn mit animalischer Unbedingtheit. Sie küssten sich und zogen sich aus, und sie zog ihn fester an sich, fordernder und wilder. Er küsste ihre nackten Brüste, küsste wieder ihren Mund, sah rote Blütenblätter auf dem schlammigen Flusswasser vorübertreiben, spürte das Dunkel, das Verschmelzen der Flüsse, von Mekong und Tonle Sap. Er spürte Topas, Zitronengras, ihren hetzenden Herzschlag und prahok .
Sie liebten sich zweimal und schliefen mehrere Stunden. Dann verließen sie verstohlen die Wohnung, um Essen und Kleider zu kaufen, aßen im Dämmerlicht zu Abend und schliefen danach wieder ein.
Als er aufwachte, stand die Sonne auf den Fenstern; es war Montagmorgen, und sie blies ihm einen. Er blickte an sich hinab, während sie an ihm lutschte, blickte auf den Schleier aus schwarzem Haar, der sich um ihren Kopf ausbreitete. Stöhnend krallte Jake die Hände in die kühlen Baumwolllaken. Er war auf nichts anderes als diese eine winzige, sehr intensive Quelle der Lust und des leichten Unbehagens dort unten konzentriert, als sie ihn lustvoll und zugleich beängstigend fleischfresserisch verschlang; sie war die unersättliche Kali, die Menschenfresserin; ein körperloses Gesicht, das über ihm schwebte, unterwürfig und betörend zärtlich verzehrend – aber irgendetwas war da, irgendetwas stimmte nicht: ein Schatten am Fenster, das musste es sein. Jake sprang auf …
Da draußen war etwas!
Chemda war nackt; sie kniete auf dem Boden und hatte den Blick nach unten gerichtet. Sie konnte es nicht sehen.
Aber Jake konnte es sehen. Sein Puls raste.
Am Fenster stand ein Mann. Und spähte herein.
19
C hemda schlang sich ein Laken um den Körper und wich schrill schreiend ans Ende des Betts zurück.
»Jake, was ist los? Was hast du denn auf einmal?«
Die Gestalt verschwand, als Jake ans Fenster stürzte und die nase gegen die Scheibe drückte.
Er spähte nach draußen. Und sah: eine Feuerleiter, Metallstege, eine Treppe, Jackfruchtbäume. Und dort – ein Khmer, der sich in eine Ecke drückte und erschrocken in seine Richtung starrte.
Etwas an dem Mann war eigenartig. Er trug eine Mütze, eine Baseballkappe aus rotem Fleece. Bei dieser Hitze?
Inzwischen war Jakes Angst verflogen. Der Mann hatte nichts Furchteinflößendes, eher den lauernden Blick eines gehetzten Tiers. Jake streifte sich hastig etwas über und rannte nach draußen, in den heißen Schatten der Feuerleiter.
Der Mann war noch da. Er trug einen schmutzigen Overall, alte Schuhe und diese komische Mütze. Als Jake auf ihn zuging, wich er immer weiter in den Schatten zurück.
»Ist ja gut«, sagte Jake beschwichtigend. »Alles okay.«
Das war natürlich absurd, denn es war nichts okay. Der Mann hatte sie beobachtet, als sie in der Wohnung Sex miteinander gehabt hatten. Irgendein Spanner oder Perverser. Doch je weiter sich Jake dem vor Angst zitternden Khmer näherte, desto mehr bekam er Mitleid mit ihm; die abgerissene schmächtige Gestalt hatte in ihrer Jämmerlichkeit etwas von einem verwahrlosten Straßenjungen, der eine Woche lang nichts mehr zu essen bekommen hatte.
In der Zwischenzeit war auch Chemda nach draußen gekommen. Die Jackfruchtbäume spendeten zwar etwas Schatten, aber die glühende Hitze erstickte alles wie
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