Bierleichen: Ein Fall für Kommissar Pascha (Knaur TB) (German Edition)
wartete auf ihn. Gegen den Drang, es zu trinken, hatte die Polizistin nichts mehr entgegenzusetzen.
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U m Mitternacht in der Istanbuler Istiklal Caddesi war es keinen Deut anders als zu Stoßzeiten auf dem Münchner Oktoberfest. Die Fußgängerstraße, durch die eine altehrwürdige, rote Trambahn tuckerte, hätte wie die Bierzelte auf der Wiesn wegen Überfüllung geschlossen werden müssen. Unter den Menschenmassen gab es zwar keine Bierleichen – wie auf dem weltgrößten Volksfest –, dafür aber genügend Angetrunkene, die das Ende des Ramadans als willkommenen Anlass zum Feiern nahmen.
Demirbilek und Cengiz waren mit dem Motorroller in eine der steilen Seitenstraßen Beyoğlus eingebogen. Demirbilek kam auf den Gedanken, einen Straßenjungen anzusprechen. Er bot ihm zehn Euro an, wenn er sein mobiles Kaugummigeschäft einstellte und stattdessen Roller und Trolley bewachte. Fünf Euro sofort, den Rest bei Abholung. Zwar protestierte Cengiz, doch ihr Chef vertraute dem Jungen, der bei der zur Aussicht gestellten Entlohnung kreidebleich wurde. Um so viel Geld zu erwirtschaften, musste er viele seiner Kaugummis, die er in einer durchsichtigen Plastiktüte feilbot, an die Touristen bringen. Um ganz sicherzugehen, zeigte ihm der Polizeibeamte seinen deutschen Dienstausweis und ernannte den Jungen zum Hilfssheriff. Cengiz machte mit ihrem Handy ein Foto des strammstehenden Jungen. Auch sie wollte sichergehen.
Mit der Gewissheit, ihr Hab und Gut in guten Händen zu wissen, eilten sie zu Fuß Richtung Hotel. Das war schneller. In der Istiklal kamen sie an vollbesetzten Cafés und Restaurants vorbei, in den Geschäften mit Eis, türkischem Honig und ausgefalleneren Süßspeisen standen trotz später Stunde Kunden Schlange. Touristen flanierten im Gedränge oder saßen draußen wie drinnen an den Tischen. Ein Heer von Kellnerinnen und Kellnern bediente das internationale Konglomerat, darunter auch viele türkische Schaulustige, die nicht in Istanbul lebten. Es war laut, wie überall in der Stadt. Istanbuler selbst mieden eher den Trubel in dem Ausgehviertel wegen der hohen Preise. Sie besuchten beschaulichere Plätze abseits des touristischen Epizentrums.
In Sichtweite des Hotels, einem Prachtbau aus osmanischer Zeit mit filigranen Ornamenten und hellerleuchteter Fassade, fanden sie ein Café. Demirbilek wies Cengiz an, an einem der Tische Platz zu nehmen, und ging allein weiter zum Hotel, das etwa fünfzig Meter weit entfernt war. Nach fünf Minuten kam er zurück. Cengiz hatte für sich Apfeltee bestellt, für den Chef
çay.
»In München wäre ich mit zwanzig Euro nicht weit gekommen«, sagte er beim Hinsetzen. »Sie sind nicht auf dem Zimmer.«
Cengiz verstand, was er meinte. Mit der richtigen Höhe des Trinkgeldes waren wahre Wunder möglich. In München wie in Istanbul.
»Kommt man auch anders in das Hotel als durch den Haupteingang?«
»Keine Ahnung. Sie wissen ja nicht, dass wir hinter ihnen her sind. Wir warten.«
Er zerbrach den Zuckerwürfel in zwei Teile und warf eines in das geschwungene Glas. Während er mit dem kleinen Löffel umrührte, beobachtete er den Eingang des Hotels. Zwei Sicherheitsleute und ein livrierter Portier standen davor.
»Willst du eigentlich wieder zurück?«, fragte er unvermittelt. Der Gedanke ging ihm durch den Kopf, weil er die sommerliche Atmosphäre zu genießen begann. Außerdem war er sich nicht mehr sicher, ob er seine Wohnung für die angehende junge Familie aufzugeben bereit war.
»Ich weiß nicht. Vielleicht«, antwortete Jale und nippte an ihrem heißen Tee. »Um hier anständig leben zu können, braucht man Geld. Am besten viel davon.«
»Da hast du recht«, pflichtete ihr Demirbilek bei.
Reiche und Superreiche konnten sich in seiner Geburtsstadt jeden Wunsch erfüllen. In der traumhaft schönen Stadt war im wahrsten Sinne alles möglich. Luxus, Prunk und Dekadenz gediehen prächtig, das Leben in der erdbebengefährdeten Metropole wurde voll ausgekostet. War man als Istanbuler nur Normalverdiener, sah die Lage anders aus. Die Mieten waren horrend. Der Verkehr lästig und unzumutbar. Die staatlichen Schulen konnten Lehrer nicht halten, private Einrichtungen lockten mit höheren Gehältern. Wenn man krank wurde oder einen Unfall hatte, musste Allah ein Wunder geschehen lassen, um die Wartezeit in überfüllten Notaufnahmen der Krankenhäuser zu überleben. Wehe denen, die arm in Istanbul waren. Sie wünschten sich in den ärgsten Momenten das Erdbeben
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