Biest: Thriller (German Edition)
Gefangenen reden zu dürfen, eine Tarnung als Journalisten war. Genauer gesagt, hatten sie ihre ›Einladung‹ einem Kommuniqué des französischen Präsidenten zu verdanken. Aufgrund des Zeitmangels hatte Solveighs geheimnisvoller Arbeitgeber offenbar entschieden, dass es schneller ging, Marcel die Story schreiben zu lassen, als eine zweite Identität für Solveigh aufzubauen. Sie reiste als seine Assistentin, was ihm ausnehmend gut gefiel. Er betrachtete ihre schlanken Handgelenke und die kräftigen Finger, die nicht recht zusammenzupassen schienen. Eine gewölbte Stirn, die bestechend hellen Augen unter ihrem dunklen Haaransatz. Solveigh war keine klassische Schönheit, aber er würde ihr jederzeit wieder verfallen, vor allem wenn sie sich in die Sekretärinnenschale geschmissen hatte, so wie jetzt. Wenn sich da nach seinem Ausrutscher mit Yael noch etwas machen ließ. Sie vermieden das Thema wie Kardinal Ratzinger seine Aussichten bei der Papstwahl, doch ebenso unausweichlich rollte es auf sie zu. Es war nicht einmal zwei Wochen her, dass Yael von Maschinengewehrfeuer zerfetzt worden war, und er dachte an einen Neustart mit Solveigh. Er fühlte sich mies. In allen Belangen. Um sich abzulenken, blätterte er noch einmal durch das Dossier in dem Manila-Folder, auf dessen Deckel das Logo der ECSB prangte: die stilisierte Befiederung eines Pfeils, darum kreisförmig angeordnet die Sterne der Europaflagge. Das Dossier über den Mann, den sie in einem der entlegensten russischen Strafgefangenenlager treffen sollten, hatte es in sich: Michail Borrisowitsch Dawydow hatte eine der ersten privaten Banken Russlands gegründet und schließlich die Kontrolle über ein Ölimperium übernommen. Bis 1994 war er einer der reichsten Männer des Landes gewesen, noch vor den heutigen Spitzenreitern, die die ganze Welt als Oligarchen kennt. Die Bilder aus frühen Jahren zeigten einen Mann mit kurzen Haaren und Brille, der ebenso der Vermögensverwalter von Jonathan Quale Higgins III. sein könnte. Oder auch einfach nur ein netter Junge von nebenan, der neben seinem Jurastudium auf die Kinder aufpasste. Doch je mächtiger Dawydow wurde, desto argwöhnischer wurden die Autoritäten. Niemand hatte je herausfinden können, wer seine ursprünglichen Förderer gewesen waren, aber es musste sie gegeben haben. Und zwar in äußerst einflussreichen Positionen. Der jetzige Präsident jedoch verzieh ihm seine politischen Ratschläge nicht und ebenso wenig, dass er zwei amerikanischen Ölmultis einen Teil der russischen Förderkapazitäten verkaufen wollte, sowie seine finanzielle Unterstützung für andere Parteien. Dawydow wollte sich nicht beugen und auch nicht wie viele in Ungnade gefallene Firmenlenker das Land verlassen. Im Oktober 2003 wurde er verhaftet und in einem spektakulären Prozess zunächst zu acht Jahren Haft verurteilt, unter anderem wegen Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe. Seine Firma wurde zerschlagen, den größten Teil verleibte sich über eine Scheinfirma der Staatskonzern wieder ein. Für die Politik war die Machtprobe gelungen, den Oligarchen waren ihre Grenzen aufgezeigt worden, und fortan war auch die Frage der Parteienfinanzierung ein für alle Mal geklärt. Dawydow hatte einen hohen Preis für seine Standfestigkeit bezahlt und viele seiner inhaftierten Mitstreiter auch. Ein Bild zeigte ihn und seinen Geschäftspartner beim Prozess: zwei Männer, in Haft sichtbar gealtert, aber nicht gebrochen, in einem Käfig aus dicken Stahlrohren, der in einem holzvertäfelten Gerichtssaal stand, davor Männer mit Maschinenpistolen. Es war ein Bild, wie man es sich in einem demokratischen Staat für zwei mutmaßliche Steuerhinterzieher nicht vorstellen mochte. Laut Solveigh war Dawydow ihre einzig mögliche Spur zu dem Drahtzieher des beispiellosen Anschlags auf die Kernkraftwerke. Angeblich kannte er die Identität des Mannes, der als ›das Biest‹ bekannt war. Marcel bekam seine Story, Solveigh den Namen. Das war ihre Abmachung. Zum fünften Mal an diesem Morgen überprüfte er Batterie und Speicherkarte seiner Leica. Er würde einen Mann fotografieren, den man nach dem Prozess in eines der härtesten Straflager Russlands verlegt hatte, mit der Absicht, ihn zu brechen. Wenn er in vier Jahren rauskäme, sollte er nicht mehr davon träumen, eines Tages in die Duma gewählt zu werden. Ein ehemaliger Häftling hatte die neue Methode des Strafvollzugs, die hier ›erprobt‹ wurde, als eine Mischung aus Wachfolter und
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