Biest: Thriller (German Edition)
Oberst nickte.
Solveigh holte eine Brille aus einem Etui, die Marcel noch nie an ihr gesehen hatte. Vermutlich gehörte sie zu ihrem Verständnis einer ordentlichen Tarnung als Assistentin eines erfolgreichen Journalisten. Und er musste zugeben, dass sie damit nicht schlecht aussah, irgendwie ein bisschen mehr nach Berlin, mit den breiten schwarzen Rändern und dem Retro-Chic.
»Eine Frage noch, Oberst«, sagte Solveigh und studierte ihre Aufzeichnungen. »Meines Wissens nach wurde uns vom Präsidenten der gesamte Tag für dieses Interview gewährt. Meine Frage wäre nun, wie es für Sie am besten einzurichten ist mit der Mittagspause und dem Abschlussgespräch? Selbstverständlich richten wir uns ganz nach Ihnen, ich wollte nur sichergehen, dass wir so wenig Abläufe wie möglich stören …« Sie komplettierte ihre Maskerade gegenüber dem Oberst mit einem notizbereiten Stift, der auf die Anweisungen des Obersten zu warten schien.
Er lächelte dünn: »Um 16.00 Uhr ist Schluss. Und machen Sie sich um das Essen keine Sorgen, wir bringen Ihnen etwas.« Sein Lachen ging in einem schweren Husten unter.
Nach einer diesmal deutlich ausführlicheren Leibesvisitation, die auch an Solveigh von einem Mann und nicht eben sanft vorgenommen wurde, begleiteten sie die beiden Wachen durch einen Gang aus schweren Eisenstäben, die in hellem Rosa lackiert waren. Die Farbe sah frisch aus, notierte Marcel. Sie passierten mehrere Türen, die nach einem ohrenbetäubenden Klingeln geöffnet wurden und rasselnd in die Schlösser fielen. Dann betraten sie die Todeszone. Außerhalb des hell erleuchteten Ganges aus noch mehr Eisenstangen dämmerte es hinter den Baumwipfeln. In einiger Entfernung sahen sie die Wachtürme in den Himmel aufragen, Hunde strichen über die Rasenflächen zwischen den Hütten oder lagen vor den Häuserwänden. Große, fleischige, Furcht einflößende Tiere. Die Stahlstreben führten sie, ohne ein anderes Ziel zuzulassen, vorbei an den Gängen zu den Wohnbaracken. Dann wurden sie von ihren Begleitern über einen großen Platz innerhalb des Sperrgebiets bis zu einem weiteren, gedrungenen Gebäude gescheucht, das keine Fenster besaß. Als sie es betraten, wurde Marcel klar, dass es sich um den Hochsicherheitstrakt handeln musste. Der Knast im Knast. Isolationshaft. Es roch stark nach Fäkalien, und die Türen zu den Zellen bestanden aus dickem Stahl mit winzigen Spionen und armdicken Hebeln zum Öffnen und Schließen. Doch der Trakt mit den Zellen war nicht ihr Ziel, ihre beiden Wachen schoben sie weiter ins Innere des Gebäudes. Marcel verspürte einen Anflug von Platzangst und fragte sich, was eine attraktive Frau im Kostüm und ein junger Franzose wohl bei den Insassen eines solchen Zellenblocks auslösen würden. Sicher nichts Gutes. An einer der Stahltüren blieben sie stehen. Ein Schlagstock schlug laut gegen das Metall. Sie öffnete sich mit dem Quietschen rostiger Scharniere. Solveigh und Marcel betraten in leicht gebückter Haltung den Raum, dessen Zweck keine Fragen offenließ: In der Mitte stand ein Käfig aus Stahlstangen, dahinter eine Scheibe aus Plexiglas, damit dem Gefangenen keine Gegenstände zugesteckt werden konnten. Er sah genauso aus wie der im Gerichtssaal auf dem Foto. Und derselbe Mann saß auf einem einfachen Holzstuhl: Michail Borrisowitsch Dawydow, der ehemals reichste Mann Russlands, in einem Pullunder mit geputzter randloser Brille und perfekt gebügelter Hose.
»Wenn Sie den Käfig berühren, werden Sie gewaltsam davon abgehalten«, warnte einer der Soldaten sie in auswendig gelerntem Englisch, unterstützt von aggressiven Gesten. Dann zogen sich die beiden in eine Ecke des Raums zurück. Eine einfache Regel. Zwei weitere Holzschemel standen vor dem Käfig. Solveigh und Marcel setzten sich und rückten so nah wie möglich heran, ohne die Stangen zu berühren. Dawydow musterte sie interessiert, beinah belustigt. Sein Haar war grau und kurz getrimmt, ein leichter Bartschatten lag auf seinem Gesicht. Er wirkte müde. Marcel ärgerte sich, dass er die Kamera abgegeben hatte, als er plötzlich bemerkte, wie der Blick des Russen ins Leere glitt, hinter sie, durch sie hindurch. Offenbar war die Gefangenschaft doch nicht ganz spurlos an ihm vorübergegangen.
»Herr Dawydow?«, fragte Marcel. »Mein Name ist Marcel Lesoille, und ich arbeite für den L’Echo Diplomatique. Das ist meine Kollegin Solveigh Lang. Wir hatten gehofft, dass Sie uns ein paar Fragen beantworten könnten.«
Sein
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