Biest: Thriller (German Edition)
Beschäftigungstherapie beschrieben. Es gab keine freie Minute für die Insassen, jede Tätigkeit war genauestens festgelegt und ausschließlich in der Gruppe zu erledigen, egal, ob Fernsehen oder Strafarbeit in der Holzfabrik. Die letzte Haftverkürzung hatte man Dawydow verweigert, weil er nicht hinreichend motiviert das Nähen gelernt hatte. Marcel war gespannt, wie ihm die letzten zwei Jahre zugesetzt hatten. Würden sie einem gebrochenen Mann gegenübersitzen, oder hielt sein wacher Verstand ihn an dünnen Fäden aus Disziplin und Selbstachtung zusammen?
Als sie in die Zufahrtsstraße zum Straflager Nummer sieben einbogen, die seltsamerweise dichter geteert schien als der gesamte Rest der Teilrepublik Karelien, hob Marcel den Sucher der Kamera. Eine weiß getünchte Betonmauer, an einigen brüchigen Stellen nur mit Holzlatten vernagelt. Klick. Zwei blaue Fässer, die seltsam farbenfroh wirkten, vor einer engen Einfahrt. Klick. Offenbar gab es nichts, wohin die Gefangenen hätten fliehen können, es sei denn, es gelänge ihnen, auch eine Polarausrüstung für ihre Flucht zu ergattern. Wachtürme, hoch und bedrohlich. Spitze braune Giebel. Klick. Oder es wurde einfach geschossen, was fast eher zu vermuten war. Kein Besucherparkplatz. Überhaupt kein Parkplatz. Wo parkten die Angestellten, die hier zwangsläufig Wache schieben, putzen, kochen und instand halten mussten? Enge Durchfahrt. Abblätternder Putz. Rot-schwarze Warnschilder, deren kyrillische Schrift keinerlei Übersetzung bedurfte. Klick. Ein Tor wurde geschlossen. Das Innere öffnete sich. Sechs Wachen, Maschinengewehre, lange graue Mäntel, schwere Pelzmützen. Klick. Eine Hand wanderte zum Spannhebel, ein irritierter Blick auf die Kamera. Zwei Männer gestikulierten sie in eine Parklücke, so groß wie ein Elefantengehege. Solveigh stellte den SUV ab, und Marcel verstaute die Leica in seiner Tasche. Besser kein Risiko eingehen, dachte er.
»Denk an unsere Coverstory«, sagte Solveigh, die Hand an der Wagentür. Marcel nickte. Sie sah noch einmal prüfend zu ihm herüber. Hellgrau und kalt lagen ihre Augen jetzt in ihren Höhlen. Marcel hatte Solveigh noch nie auf diese Art wahrgenommen, und er begriff, dass er bisher nur die eine Solveigh gekannt hatte. Dies war Slang, die Agentin, nicht Solveigh, die Frau, die er liebte.
»Dann los«, sagte sie und setzte ihr schönstes Lächeln auf. Die zwei Gesichter eines Zwillings.
Sie waren keine fünf Sekunden aus dem Wagen gestiegen, als jeweils zwei Männer sie in Beschlag nahmen und sehr uncharmant und vor allem nicht ganz ungefährlich mit den Läufen ihrer schweren Gewehre gegen die Seitentüren des SUVs drückten. Jeweils einer tastete sie nach Waffen ab. Sie durchsuchten auch Marcels Umhängetasche, die Kamera interessierte sie nicht mehr. Das jedoch änderte sich keine zehn Minuten später, als sie beim Leiter der Anstalt in seinem Büro saßen. Der Herr über mehr als tausend Gefangene, allesamt Mörder, Vergewaltiger oder Staatsfeinde, trug eine Wintermütze aus gekräuseltem Fell und eine dicke Armeejacke, grünes Tarnfleck. Sein dreifaches Kinn hing schlaff unter zwei ausdruckslosen kleinen Augen mit ergrauten Brauen.
»Mister Lesoille, Ihre Papiere sind in Ordnung, aber von einer Kamera steht nichts in diesen Papieren.« Er blickte skeptisch auf die Leica, die auf seinem Schreibtisch stand. Marcel hatte das Gefühl, dass die beiden Wachen jeden Moment zu den Waffen greifen könnten.
»Aber ich bin Journalist, Oberst. Die Kamera gehört zu meiner Ausrüstung wie zu Ihrer die Uniform und die Waffe.«
»Waffe, ja?«, gab er spitz zurück. »Nun, dies hier ist mein Lager, und ich sage: Nehmen Sie Ihre Kamera, und gehen Sie. Wenn Sie reinwollen, geben Sie sie ab.«
Marcel blickte zu Solveigh, die kaum merklich den Kopf nickte. Na klar, für sie war es nicht besonders wichtig, ob sie Fotos von Dawydow bekamen oder nicht, für seinen Artikel hingegen konnte es den Unterschied zwischen Seite fünf und der Titelseite ausmachen. Archivmaterial oder Exklusives, Flop oder Top. Marcel seufzte und beschloss dennoch, sich zu fügen. Selbst ohne Bilder wäre das Interview immer noch ein Knaller, und schließlich ging es hier noch um einiges mehr als nur um seine Karriere. Er schob die kompakte Kamera über den Tisch und hob abwehrend die Hände: »In Ordnung. Aber das Aufnahmegerät geht in Ordnung?«
Er warf einen Blick auf sein Diktiergerät, das neben der Kamera auf dem Schreibtisch stand, woraufhin der
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