Biest: Thriller (German Edition)
wurde das Gerät in die Steinzeit zurückgeworfen. Glücklicherweise gab es überhaupt noch jemanden, der Stadtpläne druckte. Als er die Straße endlich gefunden hatte, die nicht einmal sonderlich weit entfernt lag, ordnete er sich, begleitet vom lauten Hupkonzert eines Lastwagens, wieder in den Verkehr ein.
Er erreichte das kleine Café in der anonymen Häuserzeile am Rand der Innenstadt nach weniger als einer halben Stunde. Zwar konnte man auch hier die vergangene Pracht von St. Petersburg erahnen, aber offenbar hatten die Dollarmillionen der Investoren in diesem Viertel noch nicht zum Renovieren gereicht. Die Häuser hatten allesamt Substanz, wirkten aber dennoch grau und mit ihren zukunftslosen Geschäften irgendwie deprimierend. Was auch am Wetter liegen mochte, wie Marcel zugeben musste. Der Himmel, dicht mit Wolken verhangen, spuckte immer mehr Schnee auf die Straßen, den die Reifen trotz der bitterkalten Temperaturen in Matsch verwandelten. Der Wärme einer Stadt und dem dichten Verkehr hatte auch der hohe Norden kaum etwas entgegenzusetzen. Marcel schloss das Auto ab und sprang über einen hohen Verwurf verkrusteten Schneematschs auf den Bürgersteig, wobei er beinahe auf der spiegelglatten Oberfläche ausgerutscht wäre und sich gerade noch an einem Laternenpfahl festhalten konnte. Seine Kameratasche schwankte bedrohlich nahe am Metall vorbei, als er sich langsam wieder aufrichtete. Glück gehabt, dachte Marcel und warf einen Blick durch das verschmierte Fenster des Wolga-Cafés, das offenbar geschlossen war: Billige Holzstühle stapelten sich ohne erkennbare Ordnung auf den Tischen, dazwischen wischte ein älterer Mann mit gebeugtem Rücken, aber in tadellosem Anzug den Boden. Als Marcel die Tür öffnete, ertönte das Klingeln mehrerer kleiner Glöckchen, wie er es aus dem Dorfladen seiner Kindheit kannte. Und trotz des eher schäbigen Äußeren roch es angenehm nach Kaffee und Gebäck. Er bemerkte, dass sich auf den Bänken an den Wänden Polster für die Stühle auftürmten, an der Ecke des niedrigen Tresens, auf dem eine Registerkasse stand, stapelten sich weiß gestärkte Tischdecken. Der alte Mann wischte in seine Richtung, blieb gefühlte Zentimeter vor ihm stehen und musterte ihn eindringlich. Erst jetzt fiel Marcel auf, dass er eine schlichte Kippa trug, die Kopfbedeckung gläubiger Juden. Seine Augen lagen dunkel in faltigen Höhlen und starrten ausdruckslos geradeaus.
»Wer sind Sie?«, fragte der Mann. Es konnte ebenso gut »Was wollen Sie?« geheißen haben, schließlich beherrschte Marcel kein Russisch, aber im diesem Kontext war sein Begehr in Verbindung mit dem sich hebenden Satzende einer Frage universell verständlich.
»Marcel Lesoille«, er versuchte es auf Englisch. »I am looking for Yael.«
Über sein Gesicht huschte ein kurzer Ausdruck der Erinnerung. Er nuschelte etwas für Marcel komplett Unverständliches, aber deutete gleichzeitig mit dem Finger zu einer Hintertür, bevor er sich wieder den feuchten Kreisen seines Feudels zuwandte.
»Spasiba«, bedankte sich Marcel mit einem von vielleicht vier Wörtern Russisch, die er beherrschte, und wich den Kreisen aus, als er in den hinteren Teil des Lokals lief.
Die einfache Holztür war nicht verschlossen, und Marcel stolperte in einen zweiten, deutlich kleineren Gastraum ohne Fenster. Nur von einer einzelnen Lampe beleuchtet, saßen drei Gäste an dem einzigen eingedeckten Tisch vor dampfenden Tassen mit Tee. Sie beugten sich über eine Karte und einige Fotos in der Mitte des Tisches, keiner blickte auf, als er den Raum betrat. Marcel hielt noch die Klinke in der Hand, als er spürte, dass noch jemand im Raum war, wie man es spürt, dass man beobachtet wird, ohne dass man sagen kann, warum. Rechts von ihm. Die drei Personen am Tisch schienen immer noch nichts bemerkt zu haben, und er vermutete, dass es sich bei der, die mit dem Rücken zu ihm saß, um Yael handelte, die ihre Haare unter einem dicken Pullover und einer Wollmütze verbarg. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, spürte er den runden Lauf einer Pistole an seiner Halsschlagader. Der kalte Lauf presste sich auffordernd gegen das weiche Gewebe. Marcel schluckte und hob die Hände.
»Achschaw«, sagte eine emotionslose Stimme knapp neben seinem Ohr. Sie hielt die Pistole. Und die Aufforderung war nicht für ihn bestimmt. Der Pullover stand auf und kam durch das Halbdunkel des Raums auf ihn zu.
»Ist okay, Aron. Das ist wirklich Marcel.« Sie strahlte ihn an, als
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