Biest: Thriller (German Edition)
woraufhin eine gedrückte Hektik entstand, wie sie nur jahrelanges Sicherheitstraining hervorbringen konnte: Niemand schrie, jeder, der meinte, etwas beitragen zu können, sagte seine Meinung, die anderen schwiegen. Ob aus Professionalität, vor Respekt oder vor Angst, vermochte später niemand zu sagen. Sein Telefon klingelte immer noch. Er nahm ab und bekam von dem Kollegen an der Pumpe bestätigt, dass diese wieder arbeitete. Die große Frage war: zu spät? Die Temperatur im Reaktor lag immer noch im kritischen Bereich. Wenn sie nicht schnell genug Wasser hineinpumpen konnten, würden sie etwas tun müssen. Jeder im Raum beobachtete jetzt die Temperaturanzeigen, und jeder einzelne von ihnen hatte einen Schweißfilm auf der Stirn. Ihre Familien lebten allesamt in der Umgebung des Kraftwerks. Und auch wenn sie davon überzeugt waren, dass sie die Technik im Griff hatten, standen sie heute so nahe vor der unvorstellbaren Katastrophe wie noch niemals zuvor. 480°C. Der Schichtleiter wischte sich mit einer Hand die Tropfen von der Stirn und blickte zu seinem Ingenieur. 475°C.
»Sie sinkt!«, schrie er, genau eine Sekunde bevor ihn eine laute Explosion übertönte. Wenige Sekunden später begann das laute Heulen der Sirenen, die ankündigten, dass Radioaktivität ausgetreten war. Der Schichtleiter beugte sich ungläubig nach vorne: »Aber das ist doch vollkommen unmöglich! Wir hatten ihn doch im Griff! Was zum Teufel ist da explodiert?« Er hatte die Frage nicht zu Ende gesprochen, als vier Telefone gleichzeitig zu klingeln begannen. Ab jetzt konnten sie nichts mehr vertuschen. Er konnte es sich zwar nicht erklären, aber es war eine signifikante Menge an Radioaktivität freigesetzt worden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Frage, ob sein eigenes Leben in Gefahr war, stellte er sich erst zwanzig Minuten später.
KAPITEL 42
St.Petersburg, Russland
03. Februar 2013, 02.04 Uhr (dieselbe Nacht)
Sie fuhren durch die endlosen Wälder im Nordwesten Russlands, und Aron holte das Äußerste aus dem Motor des Lieferwagens heraus, obwohl der Mann vor dem Wolga-Café ihre Flucht offenbar nicht bemerkt hatte. Sie hatten seit Stunden kein anderes Fahrzeug mehr gesehen, das letzte Mal an der Tankstelle, wo Aron vollgetankt und zusätzlich vier Kanister Benzin erstanden hatte. Und eine Flasche Wodka, auf der Maja bestanden hatte, denn sie meinte, kein Russe, der seinen Verstand beisammenhatte, würde in dieser gottverlassenen Gegend ohne die richtige Wegzehrung unterwegs sein, und für den Fall, dass sie liegen blieben, war es wichtig, dass ihre Story vom gemeinsamen Ausflug in die Einsamkeit der Wälder möglichst glaubwürdig war. Marcel beobachtete Yael auf dem Beifahrersitz, die wieder eine nagelneue SIM-Karte aus einer Plastikverpackung schälte. Die dritte heute Nacht – für jeden Anruf eine. Während sie den Lack über der PIN abrubbelte, zerlegte Aron sein Handy. Er fuhr mit nur einer Hand am Steuer über die schneeglatten Straßen und blickte in gefühlten Sekundenabständen auf das Telefon in seiner anderen Hand, schob die kleine Karte in das Fach, setzte den Akku wieder ein. Als Marcel vor ihnen das Glitzern einer Eisfläche in einer lang gezogenen Kurve bemerkte, betete er, dass Arons Reflexe bei der Shajetet standesgemäß trainiert worden waren. Aber noch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, stieg der Israeli in die Eisen. Er hatte es bemerkt, obwohl er seltsam schräg im Auto saß, beinahe über der Schaltung, und Marcel hätte schwören können, dass er die ganze Zeit mit der Plastikabdeckung beschäftigt gewesen war. Zumindest Auto fahren konnte er. Trotzdem wurde Marcel das Gefühl nicht los, dass er sich hier auf etwas deutlich Heikleres eingelassen hatte, als ihm lieb sein sollte. Meine Güte, ein U-Boot. Die nächste Kurve drückte Marcels Gesicht gegen die eiskalte Scheibe des Lieferwagens, gegen den unbequemen Gurt der provisorischen Rückbank und ließ ihn die Zukunft für einen Moment vergessen. Erst mal müssen wir hier herauskommen, dachte Marcel und betrachtete die Truppe, die sich gemeinsam auf den Weg in den Westen machen würde. Wie in den guten alten Zeiten des Kalten Krieges konnte man sich vorkommen. Eine zusammengewürfelte Gruppe von Menschen mit einem Ziel vor Augen und keiner Ahnung, ob sie es jemals erreichen würden. Das erinnerte ihn daran, dass er gewissermaßen als Dokumentar vorgesehen war. Als »embedded journalist« in der verdammten Reinkarnation des
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