Biest: Thriller (German Edition)
dem letzten Nachmittag umtrieb. »Sankt Petersburg liegt doch auch am Meer.«
»Meer? Ich weiß nicht, ob ich den Finnischen Meerbusen nun wirklich als Meer bezeichnen würde. Eher eine enge Fahrrinne. Und außerdem um diese Jahreszeit vollkommen vereist. Selbst wenn wir es geschafft hätten, in die eisfreie Zone vorzustoßen: Ungesehen wären wir niemals bis ins offene Meer gekommen. Das ist eine der meistbefahrenen Schifffahrtsstraßen überhaupt. Und selbst wenn, hätte uns das Packeis erwischt.«
»Und das soll hier im Norden besser sein?«, fragte Marcel erstaunt.
»Ja, der warme Golfstrom macht’s möglich«, knurrte Aron, der es offenbar nicht gewohnt war, dass seine Taktik in Zweifel gezogen wurde. »Achtung, er kommt mit den Papieren zurück.«
Marcel hielt den Atem an, als sich der Mann, der Arons Papiere entgegengenommen hatte, und damit in dem Lada verschwunden war, zu seinem Kollegen und Maja gesellte. Durch die Scheibe beobachteten sie gespannt, wie sie ihnen einen Schluck aus der Wodkaflasche anbot. Sie lachte und warf die Haare in den Nacken. Dann flüsterte sie dem einen der beiden Beamten etwas ins Ohr. Auch er lachte und winkte ab. Er hielt die Flasche noch in der Hand, als Maja zurück zum Lieferwagen ging, immer noch scheinbar wackelig auf den Beinen.
»Wir können fahren«, sagte sie schlicht, nachdem sie die Tür zugezogen hatte. Yael atmete sichtlich ein, und Marcel warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Ihr habt den Rotwein, wir den Wodka, Marcel. Frauen hingegen hat jede Nation – und Polizisten, die es verstehen, wenn zwei Mädels mit ihren Freunden zu einem romantischen Wochenende in die Jagdhütte ihres Onkels fahren, auch.«
»Und der Wodka?«, fragte Marcel. »Ich meine, er hat ihn behalten, oder nicht?«
Maja lachte: »Ich habe ihm gesagt, dass ich das durchaus ritterlich finde, wenn er für seinen heldenhaften Einsatz, uns vor der Baba Jaga beschützt zu haben, einen kleinen Wegzoll erhält.«
»Baba Jaga. Soso«, kommentierte Yael lakonisch vom Beifahrersitz, als Aron das Lenkrad einschlug und Gas gab.
KAPITEL 43
Bundesautobahn 81, Deutschland
03.Februar 2013, 04.57 Uhr (am selben Morgen)
Solveigh hielt das Steuer ihres Wagens fest umklammert und raste über die linke Spur, vorbei an den endlosen Kolonnen der Einsatzfahrzeuge von Polizei, Feuerwehr und THW. Zumindest schienen die Notfallpläne zur Mobilisierung zu greifen. Die Polizei würde sich bemühen, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und die Beweglichkeit der Einsatzkräfte sicherzustellen. Die Feuerwehr stellte mit ihren Gefahrstoffzügen die primären, taktisch verantwortlichen Einheiten zur Ermittlung und Eindämmung der Radioaktivität. Das THW würde die beiden unterstützen. Mit Infrastrukturmaßnahmen und vor allem der Sicherung der Trinkwasserversorgung. Bei der Menge an Fahrzeugen waren offenbar die Einheiten aus halb Baden-Württemberg auf dem Weg zum Reaktor, die Gegenfahrbahn hingegen schien wie leer gefegt. 04.58 Uhr. Sie drehte das Radio lauter, um die Nachrichten zu hören, die letzten Akkorde eines uralten The-Cure-Songs, den sie in jeder anderen Situation gerne angehört hätte, verloren sich im unvermeidlichen Piepton, der unverändert seit gefühlten siebenunddreißig Jahren den Informationsteil ankündigte.
»Fünf Uhr. Stockholm. EU-Ratspräsident Mats Rooth hat in seiner Grundsatzrede zur Fiskalpolitik der Europäischen Union scharfe Kritik an den internationalen Finanzmärkten geübt. Seine Rede, in der er einigen Finanzprodukten ein ähnliches Suchtpotenzial wie Pferdewetten bescheinigte, hatte einen Proteststurm …«
Noch nichts. Zumindest nicht bei den nationalen Sendern. Solveigh schaltete das Radio aus, obwohl sie die Analyse des Schweden teilte und erst heute Mittag eine halbe Stunde mit der Studie der Harvard-Universität zugebracht hatte, auf die er seine wagemutige These stützte. Aber das zählte im Moment nichts. Alles, was zählte, war die Wolke.
Etwas zittrig vor Aufregung tastete sie mit der rechten Hand im Ablagefach der Mittelkonsole nach den Tabletten. Sie drückte die 65 mg Kaliumiodid aus dem Blister und schraubte die Wasserflasche auf. Eine Maßnahme gegen den Schilddrüsenkrebs, weil es verhinderte, dass sich radioaktives Jod ablagerte. Wenigstens etwas.
»Call Eddy«, sagte sie unvermittelt, nachdem sie die Flasche zugeschraubt und auf den Beifahrersitz geworfen hatte, was jedem, der im Auto gesessen hätte, reichlich dämlich vorgekommen wäre. Selbst
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