Biest: Thriller (German Edition)
Bundeswehr. Solveigh stellte den Motor ab und ließ das Fenster herunter. Wortlos nahm der Mann ihren Ausweis entgegen und brachte ihn zu einem Mann, der mit einem mittelalterlich anmutenden Feldtelefon telefonierte und der mit dem Rücken zu ihr an dem dunkelgrünen Mercedes-Jeep lehnte. Als ihm der junge Polizist ihre Papiere hinstreckte, drehte er sich um. Solveigh seufzte vor Erleichterung, als sie ihn erkannte: Major Aydin. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal so froh gewesen war, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Er kam zu ihr herüber und blieb neben ihrem Fenster stehen, die Hände in der Hüfte, die Rechte genau neben dem Holster seiner Heckler & Koch P8.
»Hallo, Frau Lang«, begrüßte er sie.
»Mein Gott, ich freue mich, Sie zu sehen, Major.« Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass weder der junge Polizist, der sie hereingewunken hatte, noch der Major einen Atemschutz trugen. Sie kam sich überängstlich vor, und es war ihr unsäglich peinlich. Der Major öffnete die Tür und ging neben ihr in die Hocke. Er blickte ihr durch die Plexiglasscheiben in die Augen und löste sanft die Gummibänder, die ihr die Maske aufs Gesicht drückten.
»Die brauchen Sie hier nicht mehr, vertrauen Sie mir. Ab hier sind Sie in Sicherheit.«
Als er ihr die Maske vom Kopf zog, verfingen sich ihre langen Haare in dem Gummigeflecht, und sie versuchte so flach wie möglich zu atmen, während Major Aydin sie befreite. Danach warf er einen Blick auf die Messwerte ihres Dosimeters. Er sagte nichts, aber Solveigh bildete sich ein, dass er die Augenbrauen hochgezogen hatte. Sie löste den Gurt, und Major Aydin nahm ihr den Bleischutz vom Schoß. Er warf ihre Ausrüstung in einen dicken gelben Sack, auf dem das bekannte Symbol mit einem schwarzen Punkt und drei Dreiecken prangte. Als er ihn zuschnürte und in eine große gelbe Tonne warf, hatten sich Solveighs Sorgen vervielfacht. Aber er hatte recht, sie musste ihm vertrauen. Und das tat sie. Sagte sie sich. Wirklich.
»Kommen Sie, ich bringe Sie zum Flughafen. Ihr Kollege hat mich schon informiert, dass eine Maschine auf Sie wartet.«
KAPITEL 47
Außerhalb von Murmansk, Russland
03. Februar 2013, 22.25 Uhr (am Abend desselben Tages)
Als sie das Boot zum Strand trugen, schien die Nacht ihnen gewogen. Dunkle Wolken verhingen den Himmel, und die Luft war kristallklar. Marcel zupfte an der Sturmhaube, die sein Gesicht fast vollständig bedeckte und kratzte wie die Kreuzung einer Ameisenstraße. Deindividualisierung, hatte Aron die Masken genannt. Ihr Gegner sollte sie im Fall einer direkten Konfrontation nicht auseinanderhalten können. »Damit sie nicht zuerst auf dich schießen«, hatte Yael gespottet. Niemand hatte gelacht. Die Wellen schwappten seicht gegen den schmalen Sandstreifen und klangen wie ein monströses Ungetüm, das sich in Zeitlupe an der Küste verköstigte. Es war still, unendlich viel stiller, als sich Marcel es jemals von einem Strand hätte träumen lassen. Und dunkler, je weiter sie sich von der Lagerhalle entfernten. Die pechschwarze See schien mit dem dunklen Himmel am Horizont zu verschmelzen, gemeinsam bildeten sie ein einziges Nichts. Unter ihren schwarzen Thermoanzügen trugen sie einen OTS-600, der sie zumindest für eine Stunde in dem vier Grad kalten Wasser überleben lassen würde. Die Aussicht, eine weitere Stunde in der offenen Barentssee zu überleben, ohne Chance auf Rettung, wollte Marcel nicht gerade als Lichtblick bezeichnen, aber Aron hatte sie davon überzeugt, dass es pures Seemannsgarn war, dass Matrosen lieber nicht schwimmen lernten, um schneller zu sterben, wenn sie über Bord gingen. Er hatte ihnen versichert, dass sie im Fall der Fälle um jede Sekunde betteln würden, und vermutlich hatte er recht. Als sie das Zodiac am Rand der schmalen Eisschicht, die sich am Strand gebildet hatte, ins Wasser setzten, ermahnte Aron sie noch einmal:
»Ich erwarte von euch, dass ihr euch absolut diszipliniert verhaltet. Keine Spirenzchen, keine Spielereien, kein Aufstehen. Haltet euch immer am Boot fest, und glaubt niemals, dass wir zum Vergnügen hier sind, auch wenn es sich im ersten Moment so anfühlt. Wir fahren auf die offene See, Packeis nicht ausgeschlossen. Hohe Wellen ebenso wenig. Ich erwarte von euch, dass ihr nicht in Panik geratet, egal, was passiert, okay?«
Er schaute jedem von ihnen nacheinander in die Augen, sein Blick war stechend, und das überlegene Lächeln um seine Lippen war verschwunden. Sie nickten einer nach dem anderen
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