Biest: Thriller (German Edition)
der sie mit den aktuellen Informationen der Einsatzbehörden versorgte. Das Blaulicht auf ihrem Wagendach mühte sich wie Don Quichotte gegen seine Windmühlen und war ebenso erfolglos. Die Bevölkerung war in Panik und versuchte, über jede Fahrbahn, die sie erreichen konnte, die Stadt zu verlassen, jedem Aufruf ihrer Regierung zum Trotz. Stoßstange an Stoßstange verkeilten sich die Wagen, bis nichts mehr ging, nur aus dem Auto stieg niemand – vermutlich aus Angst vor der Radioaktivität, was aus mehreren Gründen sinnlos war, wie Solveigh wusste. Sie selbst trug immer noch eine Atemschutzmaske über dem Gesicht, denn der Filter eines handelsüblichen Autos hielt radioaktive Partikel nicht etwa ab, sondern verhinderte durch die ständige Luftzirkulation sogar noch das wünschenswerte Absinken auf den Boden. Auch der Bleischutz, den ihr Major Aydin gegeben hatte, lag noch auf ihrem Bauch, nachdem er in der Dekontaminationsschleuse vor dem Kraftwerk gründlich gereinigt worden war, und sie hoffte, dass er ihren kleinen Begleiter beschützt hatte. Zwar befand sie sich nicht mehr im Gefahrenbereich, und Eddy hatte ihr mehrfach versichert, dass es ungefährlich war, hier die Maske abzunehmen, aber sie traute sich einfach nicht, obwohl ihr das enge Sichtfeld das Fahren um einiges erschwerte. Aber die Angst vor diesem unsichtbaren Gift konnte einem eiskalt den Rücken herunterlaufen. Manchmal meinte sie, die Teilchen spüren zu können, die sich mit einem metallischen Geschmack in ihre Kehle verirrten. Sie versuchte oft, nicht zu schlucken, was zwangsläufig irgendwann misslang, und dann zählte sie die Atome, die in ihrem Bauch strahlten und Krebs auslösten. Vielleicht in diesem Moment? Natürlich schmeckten die Teilchen nach nichts, dafür waren sie ja auch viel zu klein. Atome. Tödliche Atome. Solveigh ärgerte sich über ihre eigene Phantasie am meisten, aber sie konnte einfach nichts dagegen tun. Sie hupte und trat aufs Gas, als sie eine Lücke zwischen dem Kleinbus einer Familie und einem reichen Schnösel in einem dicken Porsche bemerkte, die sich hassverzerrt anstarrten. Die Schnösel waren die Schlimmsten. Im normalen Leben und in Grenzsituationen umso mehr.
»Gleich müsstest du die Absperrung auf der Südumgehung sehen. Du hast es fast geschafft, Slang.« Eddy, ihre Stütze. Wie immer. Ihr Halt, ihr Schachpartner, ihr Retter, ihr zweites Gehirn.
»Danke, Eddy, ich glaube, ich sehe sie.« Obwohl er hören musste, dass sie die Gasmaske immer noch trug und offenbar auch ihre Brille nicht aufgesetzt hatte, mit der ihr Kollege in Amsterdam aus ihren Augen hätte sehen können, hatte er es nach seiner ersten Entwarnung mit keinem weiteren Kommentar erwähnt. Obwohl er ein fauler Katalane fragwürdiger Herkunft war, liebte sie ihn dafür. Natürlich war er nicht faul, im Gegenteil, er verließ seinen Arbeitsplatz so gut wie nur zum Schlafen oder für die Bodega – aber das Kultivieren nationaler Klischees unter Europäern gehörte bei der ECSB zum guten Kantinenton. Solveigh quetschte sich zwischen zwei Autos hindurch, was sie ihren rechten Außenspiegel kostete und ein lautes Hupkonzert auslöste. In etwa zweihundert Meter Entfernung erspähte sie hinter einer Kurve die Absperrung. Sechs Mannschaftswagen waren quer über die Fahrbahn gestellt, dazwischen bewaffnete Polizisten mit Maschinenpistolen. Sie hatten die Stadt tatsächlich abgeriegelt. Demnach mussten die meisten der Autos, die den Stau verursachten, aus den umliegenden Gemeinden kommen. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn auch die Stuttgarter dazukämen – für die Rettungskräfte wäre es der sichere Kollaps. Solveigh verstand, warum sich der Krisenstab dazu entschlossen hatte. Aber was, wenn sich die Bürger nicht mehr beruhigen ließen? Wenn die ersten Steine flogen oder die ersten Autos versuchten durchzubrechen? Würden die Polizisten tatsächlich auf die Zivilbevölkerung schießen? Wenn Evakuierung, dann konzertiert, lautete die Devise der Politiker, erinnerte sich Solveigh an Eddys Worte, als sie langsam in Richtung der Straßensperre rollte, um niemanden zu provozieren. Leicht gesagt, murmelte Solveigh hinter ihrer Maske, als sie plötzlich bemerkte, wie einer der Polizisten ihr mit einer Kelle bedeutete weiterzufahren. Eine der grünen Wannen schob sich zentimeterweise zurück, bis die Lücke gerade breit genug für ihren Wagen war. Der Mann mit der Kelle winkte sie auf den Standstreifen hinter einen Geländewagen der
Weitere Kostenlose Bücher