Big Bad City
fragte Schwester Beryl. »Milch? Zitrone? Zucker?«
»Ich nur mit Milch«, sagte Brown. »Zitrone, bitte«, sagte Carella.
Schwester Beryl lächelte liebenswürdig und eilte davon. Für Carella schienen Nonnen in Ordenstrachten sich immer schnell zu bewegen, wie aufziehbare Spielzeuge. Vielleicht, weil ihre Fortbewegungsmittel von dem langen, weiten Rock verborgen wurden. Die Tür fiel mit einem leisen Flüstern hinter ihr zu. In dem von Bücherregalen gerahmten Arbeitszimmer wurde es wieder still. Draußen hörte Carella das Geräusch eines Rasensprengers, der unablässig das Gras bewässerte.
»Keine guten Nachrichten«, sagte Annette und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Keine guten«, pflichtete er ihr bei. »Haben Sie schon etwas herausgefunden?«
»Noch nicht.«
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Nun ja, wir wissen, wo sie gearbeitet hat …« sagte Carella.
»Aber erst seit kurzem.«
Brown sah schon in seinem Notizbuch nach.
»Seit einem halben Jahr, wie wir erfahren haben. Von einer Krankenschwester namens Helen Daniels.«
»Ja, das ist richtig. Das St. Margaret’s ist eins der drei Krankenhäuser, die von den Ordensschwestern geführt werden. Unser Orden wurde nämlich eigens zur Pflege der Kranken gegründet, besonders der mittellosen Kranken. Das ist natürlich schon lange her. 1837 in Paris, um genau zu sein. Das Charisma hat sich im Lauf der Jahre ein wenig verändert…«
Charisma, dachte Carella, fragte aber nicht.
»… und beinhaltet nun auch die Ausbildung von Behinderten. Wir unterhalten nebenan zum Beispiel eine Schule für Gehörlose und in Calm’s Point eine für Blinde.«
Carella fragte sich, ob er erwähnen sollte, daß seine Frau gehörlos war, er sie aber nicht als behindert betrachtete. Er ließ den Augenblick verstreichen.
»Mary hat sich um die Sterbenden gekümmert. Sie hat wunderbare Arbeit geleistet.«
»Das haben wir schon gehört«, sagte Carella.
»Eine fromme Nonne«, sagte Annette. »Und ein einzigartiger Mensch. Sie war zwar erst siebenundzwanzig, aber schon so reif, so mitfühlend.«
Sie wandte den Kopf kurz ab, vielleicht, um eine Träne zu verbergen, und blickte durch auf das geöffnete Bleiglasfenster, hinter dem der Rasensprenger beharrlich seine Arbeit tat. Es klopfte an der Tür. Schwester Beryl kam mit einem Tablett herein, das sie auf einen niedrigen Tisch stellte.
»Bitte sehr«, sagte sie und klang dabei für eine Frau ihres Alters erstaunlich munter. »Hoffentlich schmeckt er Ihnen.«
»Danke, Schwester Beryl.«
Die alte Nonne nickte und musterte den Tisch, als hätte sie nicht nur den Tee gemacht, sondern auch das Tablett, auf dem er stand. Zufrieden mit dem, was sie sah, nickte sie erneut und eilte wieder hinaus. Der Rock ihrer schwarzen Ordenstracht flüsterte auf dem steinernen Boden.
»Wo hat Mary vorher gearbeitet?« fragte Carella. »Sie hat diese Stelle ja erst vor kurzem angetreten…«
»Ja, sie ist gerade erst von San Diego hierher gekommen. Dort ist unser Mutterhaus. Genau gesagt in der Nähe von San Diego. In einer Stadt namens San Luis Elizario.«
»Dann kennen Sie sie erst, seit sie in den Osten kam?« fragte Brown.
»Ja. Wir haben uns im März kennengelernt. Unsere Major-Oberin rief mich aus San Diego an und bat mich, Mary zu helfen, sich hier einzuleben.«
»Ihre Major…?«
»Was wir früher Mutter Oberin nannten. Die Zeiten haben sich geändert… und wie sie sich geändert haben. Tja, das zweite Vatikanische Konzil«, sagte sie und verdrehte die Augen, als würde die bloße Erwähnung der Worte wieder die weitreichenden Reformen heraufbeschwören, die die Kirche in den sechziger Jahren durcheinandergewirbelt hatten. »Selbst Major-Oberin ist schon etwas veraltet. Einige Gemeinden nennen sie mittlerweile wieder Priorin. Aber man bezeichnet sie auch als Präsidentin und Provinzialin und Generalsuperiorin und Provinzialsuperiorin und Gewählte Superiorin oder auch einfach nur als Administratorin. Das kann schon ziemlich verwirrend sein.«
»Hat Mary Vincent hier gewohnt?«
»Sie meinen, hier im Kloster? Nein, nein. Hier wohnen nur zwölf von uns.«
»Und wo hat sie gewohnt?« fragte Brown.
»Sie hat sich ein kleines Apartment in der Nähe des Krankenhauses gemietet.«
»Dürfen Nonnen das denn?«
Annette unterdrückte ein Lächeln.
»Heute ist alles anders«, sagte sie. »Heutzutage liegt die Betonung weniger auf der Gruppe als auf dem Individuum.«
»Können Sie uns die Adresse geben?« fragte er. »Natürlich«,
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