Big U
Casimir hatte schon einmal das Innere einer Ratte gesehen. Die Haut ließ sich leicht zurückklappen, zusammen mit rosa Fettschichten, dann betrachteten wir die Eingeweide, die so erstaunliche Mahlzeiten verdauen konnten. Casimir trennte mit einer starken Heckenschere das Brustbein durch, damit wir unter die Rippen fassen konnten. Ich zwängte die Hände zwischen den Hälften des Brustbeins durch und zog so fest ich konnte, bis schließlich eine Seite mit einem lauten Knacksen und einem Blutschwall aufklappte wie eine verkantete Schranktür und wir die Lunge und andere lebenswichtige Organe sehen konnten. Das Herz war auf den ersten Blick nicht zu sehen.
»Vielleicht ist es unter diesem Organ verborgen«, schlug Fred Fine vor und zeigte auf etwas zwischen den Lungen.
»Das ist kein Organ«, sagte Casimir. »Das ist eine Kreuzung mehrerer wichtiger Blutgefäße.«
»Und wo ist das Herz?« fragte Hyacinth, deren Interesse langsam geweckt wurde.
»Diese Blutgefäße sind diejenigen, die in das Herz hinein und wieder heraus führen sollten«, sagte Casimir unsicher. Er griff mit der Hand unter das Bündel Blutgefäße, zog es hoch und zur Seite und enthüllte – nichts.
»Heilige Mutter Gottes«, flüsterte er. »Dieses Tier hat kein Herz.«
Unsere eigenen schlugen dafür um so heftiger. Lange Zeit standen wir wie erstarrt da und waren über die Maßen beunruhigt; dann ertönte ein durchdringendes Piepen von Fred Fine, wir zuckten zusammen und schnauften erbost.
Fred drückte ungerührt einen Knopf an seiner Digitaluhr und brachte das Piepen zum Verstummen. »Entschuldigt. Das war mein Wecker.«
Wir sahen ihn an; er sah auf die Uhr. Wir schwitzten alle.
»Ich habe ihn so eingestellt, daß er jedes Jahr Anfang April um Mitternacht so läutet. Das ist eine Art Warnung, damit meinereiner sich erinnert, he, wir haben den ersten April, jetzt ist alles möglich.«
APRIL
Während wir durch die Kanalisation krochen wurde in E13S eine Riesenparty zu Ehren des Big Wheel veranstaltet. Es sollte ursprünglich das klassische zwanglose Bierwegkippen sein, aber die Luftköpfe hatten in ihrem nicht endenwollenden Erfindungsreichtum darauf bestanden, daß es ein Thema geben sollte: Partygrößen der Vergangenheit. Die vorherrschenden Stilrichtungen waren Disco, sechziger Jahre, fünfziger Jahre und Toga. Ein Team vierschrötiger Terroristen hatte Dex Fressers Stereoanlage in den Gemeinschaftsraum geschleppt, das Zentrum der Disco-Aktivitäten. In einem abgedunkelten Raum weiter unten am Flur fand eine Sechziger-Jahre-Party statt, deren Teilnehmer sich die Haare auftoupiert hatten, T-Shirts trugen, mehr Dope als gewöhnlich rauchten und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit »groovy« sagten. Das Studierzimmer bildete das Fünfziger-Jahre-Hauptquartier und war identisch mit allen anderen Fünfziger-Partys, die seit 1963 regelmäßig von Leuten abgehalten wurden, die nicht das geringste über die fünfziger Jahre wußten. Die Toga-Leute waren gezwungen, eine rastlose Nomadenexistenz zu führen: Sie hatten keine authentische Toga-Musik, zu der sie abtanzen konnten, allerdings wagte einer ein Experiment und spielte eine elektronische Version der »Ouvertüre von 1812« auf voller Lautstärke. Aber überwiegend standen diese Leute nur dämlich in ihren Designerbettüchern auf den Fluren herum, hielten Plastikbecher voll Bier umklammert und riefen von Zeit zu Zeit »Toga!«
Im Disco-Saal wimmelte es von Frauen mit bonbonfarbenen Plastikkleidern und dickem Metallic-Lippenstift unter Skimasken, sowie übertrieben parfümierten Männern in dreiteiligen pastellfarbenen Anzügen und glänzenden, mit Eisenwaren beladenen Schuhen. Der Geruch wirkte erstickend, und wenn die Türen geöffnet wurden, drang die Musik heraus und bis in die hintersten Winkel der umliegenden Zimmer. Bei den Partygästen hier handelte es sich um eine Generation, der man die Jugend gestohlen hatte. Während ihrer gesamten Pubertät hatten sie den Tag herbeigesehnt, da sie das College und richtige Discos besuchen konnten, Discos für Erwachsene, wo es Alkohol und Sex-Partner gab, die man mit nach Hause nehmen konnte, ohne Ärger mit dem Vermieter befürchten zu müssen. Ihre Hoffnungen waren in den frühen achtziger Jahren zunichte gemacht worden, als Disco irgendwo über New Jersey ausbrannte wie ein berühmtes Luftschiff. Doch in der nostalgischen Atmosphäre hier fühlten sie sich wieder jung. Dex Fresser kreuzte sogar in einem weißen
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