BIGHEAD - Ein brutaler, obzöner Thriller (German Edition)
nur eins bedeuten:
Sie hat mich hergeführt, um mir ein bestimmtes Grab zu zeigen ...
Charity konnte sich denken, welches.
»Ich hab’ dir nie das Grab deiner Mutter gezeigt, Charity«, sagte die ältere Frau. »Und hab’ dir auch nie die genauen Einzelheiten erzählt. Du warst noch zu jung, jedenfalls war’s meine Meinung.«
»Ich verstehe, Tante Annie.«
»Aber jetzt wird’s Zeit, dass du’s siehst und alles erfährst.«
Charity folgte der zierlichen Gestalt der alten Frau hinein in das gleißende Sonnenlicht. Die Spitzen des hohen Grases zitterten, als sie hindurchgingen, Blütenduft umschwebte sie. Am Rand des Friedhofs erkannte sie Wildrosen, Lupinen, Sonnenblumen mit großen hängenden Köpfen. Sie folgten einem Pfad, der von Annies täglichen Besuchen ausgetreten war; Charity konnte ihn gut erkennen, wie er sich zwischen den einfachen Grabsteinen hindurchwand. Und dann wurde Charity klar, wie lange ihre kleine Wanderung gedauert hatte – sie mussten gut zwei Meilen vom Gästehaus entfernt sein. Kein Wunder, dass sie in ihrem Alter noch so gut in Form ist! Täglich einen solchen Spaziergang zu machen, würde jeden in Form halten.
Annie hielt vor einem blassen Granitstein an. Die Inschrift, die offensichtlich von Hand eingraviert worden war, lautete: SISSY.
Das war alles.
Davor lag ein vertrockneter Strauß gelber Astern und Fingerhüte. Die Grabgaben von gestern, vermutete Charity.
»Das ist das Grab deiner Mutter, Liebes«, erklärte Annie. »Meiner Schwester.«
Charity kannte bereits die groben Zusammenhänge: Ihre Mutter hatte kurz nach ihrer Geburt Selbstmord begangen, kurz nachdem ihr Mann – Charitys Vater – bei einer Bergwerksexplosion ums Leben gekommen war. Charity hatte nie ein Foto ihrer Mutter gesehen. Hier draußen waren alle zu arm gewesen, um sich eine Kamera leisten zu können.
Tante Annie hielt mühsam die Tränen zurück. »Es tut mir so leid, Charity, es lief einfach nich’ so, wie’s sollte«, schluchzte sie. »Ich hoffe, du weißt das, und ich hoffe, Sissy weiß es auch.«
»Natürlich weiß sie es, Tante Annie«, tröstete Charity sie. »Du hast wirklich dein Bestes getan, um mich großzuziehen. Dass der Staat mich weggenommen hat, war nicht deine Schuld.«
Doch mehr Tröstendes wollte Charity nicht einfallen. Es war schwierig. Ich stehe vor dem Grab meiner eigenen Mutter, sagte sie sich. Es war eine bizarre Erkenntnis.
Annie nahm die alten, vertrockneten Blumen und ersetzte sie durch frische. Doch den zweiten frischen Strauß behielt sie.
»Sie war ein wunderbarer Mensch, deine Mutter«, erzählte Annie. »Eine großartige Frau und eine gute Mutter. Aber sie hat die bösen Dinge zu sehr an sich herangelassen ...«
Charity war traurig, doch die nächste Frage brannte ihr auf der Zunge. »Wie ... wie hat sie sich umgebracht?«
Annie blinzelte und blickte auf das spärlich markierte Grab hinab. »Ich kann da jetzt nicht drüber reden, Kleines. Aber ich schätze, du hast ’n Recht darauf, alles über deine Mama zu erfahren, und ich werd’ dir später davon erzählen, wenn wir wieder im Haus sind.«
»Das ist gut, Tante Annie.«
Doch die Frau sah niedergeschlagen aus, sie sah aus wie eine schlanke, hohe Kletterpflanze, die zu viel Sonne abbekommen hatte. »Charity, Liebes, kannst du wohl bitte diese alten Blumen nehmen und oben am Weg auf mich warten? Bin gleich bei dir.«
»Klar, Tante Annie«, sagte Charity und nahm das Büschel vertrockneter Blumen.
»Da ist ... noch ein Grab, zu dem ich muss«, sagte die ältere Frau.
Charity tat wie geheißen, insgeheim war sie froh, dass sie aus der gleißenden Hitze der Sonne herauskam. Sie konnte vom Weg aus nicht viel von ihrer Tante sehen, konnte nur vage erkennen, wie sich der Umriss ihres wogenden Kleides durch die Reihen der Grabsteine bewegte. Dann blieb sie stehen und schien mit tiefer Trauer im Blick nach unten zu schauen.
Sie stand vor einem anderen Grab und weinte.
Wessen Grab?, fragte Charity sich verwundert.
Hatte Annie hier noch mehr Verwandte liegen? Natürlich hatte sie – sie hatte gesagt, dies sei der Familienfriedhof . Doch Charitys Frage juckte wie ein frischer Mückenstich unter nervös kratzenden Fingern. Wessen Grab?, fragte sie sich. Wessen Grab?
Sie blinzelte und starrte in die sengende Sonne. Die Frage wollte nicht aus ihrem Kopf weichen.
(II)
»Also, was denken Sie?«, fragte Jerrica. Durch die offenen Fenster des Mercedes drang der Fahrtwind herein. »Finden Sie nicht auch, dass es
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