Bilder Aus Dem Berliner Leben
ist noch etwas von der alten Romantik; und wer vom Kreuzberg nieder- und über die Belle-Alliance-Straße hinweg den Tempelhofer Berg hinansteigt, der kann sich in die glückliche Vorzeit versetzt wähnen. Es ist dies auch noch ein rechtschaffener Sandhügel mit allen Attributen eines solchen. Bei jedem Schritte, den man vorwärts tut, sinkt man ein oder rutscht hinunter. Rechts, am Rande des Hügels, ist die berühmte Bock-Brauerei, links ist eine andere Brauerei und ein Hof mit vielen Tonnen, geradeaus ist eine Gruppe von Pappeln, eine Windmühle, eine Fabrik mit ein paar hohen Schornsteinen – und Berlin ist zu Ende. Dieses Haus dort drüben ist das letzte Haus von Berlin.
Aber unermeßlich gegen Südwesten, vom Tempelhofer Revier bis zur Luisenstadt, dehnt sich ein neues Berlin aus; und ich erinnere mich noch, daß ich dort im Sande des Köpenicker Feldes ging, wie ich hier im Sande der Tempelhofer Felder gehe. Jetzt sind überall Straßen – und was für Straßen, und was für ein beständiges Wogen der Menschen in ihnen! Welche Plätze, welche Brücken! Weit und luftig ist hier die Gegend am Johannistisch und am Urban, in dessen Nachbarschaft, auf die »Schlächterwiese« des Cottbuser Feldes – vor elf Jahren, im Sommer 1872, noch ein Rüben- und Kartoffelfeld – in jener Zeit der Wohnungsnot der Exodus der »Obdachlosen« stattfand, die sich hier Hütten bauten. Welch ein Anblick kann phantastischer sein als jetzt, wenn man in diesen neuen Gegenden, am Plan- und Waterloo-Ufer und der prächtigen Bärwaldbrücke vorbei, bis zum Kohlenufer wandelt, bei der einbrechenden Dunkelheit die Feuer der Gasfabriken, unter den alten Baumgruppen, am Wasser und im warmen Dunste des Sommerabends; oder, der Nacht und dem frischen Ostwindentgegen, an einem dunkelblauen Himmel, über einer Fläche, halb noch unbebautes Land und halb schon weißliches Häusermeer, als ob es Bergzüge wären oder Wolkenmassen, den Vollmond aufsteigen zu sehen, groß und golden? Oder sich in das Unbekannte Häusergewirr zu verlieren, in dem man sich nur nach der Richtung zu orientieren vermag, in das Dunkel von Straßen, von deren Namen und Existenz man bisher nichts gewußt und die doch alle regelrecht gebaut sind und in denen aus Bierlokalen und »Destillationen« überall das Spiel von Klavieren heraufklingt?
Zwischen den Kolossen mit vier oder fünf Stockwerken und unzähligen Fenstern, so daß man meint, fünfhundert Menschen müßten darin wohnen können, begegnet man hier zuweilen einem kleinen Bijou von Haus, einstöckig, traulich, nur für eine Familie – das Haus, welches ein Fabrikant dieser Gegend sich in der Nähe seiner Fabrik und der Mitte seiner Arbeiter gebaut hat. An einer anderen Stelle sieht man ein übriggebliebenes Häuschen aus einer Bauperiode stehen, wo menschliche Wohnungen hier nur selten in den Gärten und den Feldern waren. Inzwischen sind die Felder und die Gärten verschwunden, das Häuschen hat hohe Nachbarn bekommen, und der Straßendamm ist emporgewachsen; es selber aber hat sich nicht vom Platz gerührt, und wie man nun bei allen anderen Häusern die Treppe hinaufsteigt, so steigt man bei diesem die Treppe hinunter, wenn man hinein will. Ein ähnliches Häuschen gegenüber liegt noch tiefer, seine drei Fenster reichen knapp an den Bürgersteig hinan, und ich kann mir nicht denken, wie die Bewohner desselben es anstellen, um auf die Straße zu sehen. Und dennoch scheinen sie ganz gemütliche Leute zu sein mit hübschen Gardinen an ihren drei Fenstern und Lichtbildern und Blumen davor.
Je weiter man in diesen neuen Gegenden vordringt,die doch vorzugsweise bestimmt sind, von den weniger bemittelten Einwohnerklassen bewohnt zu werden, desto mehr wird man erstaunt sein, nicht sowohl über die Massenhaftigkeit der Bauten und Anlagen als über ihre Zweckmäßigkeit, Mannigfaltigkeit und Schönheit. Wir alle kennen das normale Berliner Wohnhaus, das aus der Zeit Friedrich Wilhelms III. und Friedrich Wilhelms IV. stammende – nüchtern, ohne Schwung, wie der Staat jener Zeit, auf das Notdürftige beschränkt, unerfreulich, monoton, langweilig und eines ungefähr wie das andere. Kein Wunder, daß dem Fremden, der in unsere Stadt kam, ihre langen Straßen mit den Mietskasernen, nur selten unterbrochen durch ein edleres Bauwerk, nicht besonders wohl gefallen konnten. Das Berliner Wohnhaus vermochte Schinkel nicht zu reformieren. Der Genius eines einzelnen reicht nicht hin, eine Stadt umzugestalten. Dazu müssen
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