Bilder aus der Anderwelt
„Geh", sagte sie. „Ich habe ein Kopfgeld abzuholen."
Sie schritt von dannen, ohne sich einmal umzudrehen. Verabschiedungen waren noch nie Suzies Stärke gewesen.
„Na gut", sagte ich in den Hörer. „Gib mir die Einzelheiten."
„Da gibt es nicht viele. Sie möchten, dass du zu ihnen in die Redaktion kommst, um die Angelegenheit zu besprechen.”
„Warum können die nicht zu mir kommen?"
„Weil du nie da bist. Irgendwann in der nächsten Zeit musst du einmal vorbeischauen; hier liegt ein Riesenstapel Papierkram, den du unterschreiben musst."
„Na los, fälsch' einfach meine Unterschrift", stichelte ich. „Wie damals, als du die sieben Extrakreditkarten in meinem Namen angefordert hast."
„Ich sagte doch, dass es mir leid tut!"
„Wo wollen sie mich treffen?"
„Sie schicken jemanden, der dich abholt. Das Personal des Unnatural Inquirers lässt sich nicht gern in der Öffentlichkeit sehen. Sie werden immer mit Kram beworfen."
„Nur zu verständlich", sagte ich. „Wo soll ich hin, damit sie mich treffen können?"
Cathy gab mir die Wegbeschreibung zu einer Straßenecke in einem nicht ganz so schmierigen Viertel der Nightside. Ich wusste: e in geschäftiger Ort, an dem immer viele Passanten vorbeikamen. Ein lockeres Treffen hatte gute Chancen, übersehen zu werden, verschluckt von der Menschenmenge. Ich verabschiedete mich von Cathy und legte auf, bevor sie mich noch mal mit dem Papierkram quälen konnte. Wenn ich gerne Papiere jongliert hätte, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, hätte ich mir längst e ine Kugel in den Kopf gejagt. Mehrfach.
Ich brauchte nicht lange von der Cheyne Promenade zur Weinstraße, und ich drückte mich so unauffällig wie möglich vor einem Trepanationsbetrieb herum - Lass etwas Licht herein GmbH . Ich war der Meinung, dass ich eine Trepanation so dringend brauchte wie ein Loch im Kopf. Doch immerhin war sie sinnvoller, als intelligente Drinks es je gewesen waren. Leute kamen und gingen, immer darauf bedacht, sich nur um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Ein paar waren auffälliger; ein Ritter in strahlender Rüstung, auf dessen Schulter ein winziger Drache saß, der andere Fußgänger anzischte; eine fluoreszierende Muse mit Augen wie Feuerräder; ein schmollendes Selbstmordmädchen mit einer Schlinge um den Hals. Die meisten aber waren einfach nur Leute, Alltagsgesichter, bei denen man nicht zweimal hingesehen hätte, die in die Nightside gekommen waren, um verbotenen Gelüsten, geheimem Wissen oder schrecklichen Befriedigungen, die sie sonst nirgendwo finden konnten, zu frönen. Die Nightside war immer schon eine Art Touristenfalle.
Ich mag es nicht, im Freien herumzustehen. Ich fühle mich dadurch verwundbar, wie ein leichtes Ziel. Wenn ich einen Überwachungsjob übernehme, achte ich darauf, mich irgendwo im Dunklen und in den Schatten zu bewegen. Die Leute begannen langsam, mich wiederzuerkennen. Die meisten machten einen großen Bogen um mich; einige stießen einander an und glotzten neugierig. Ein Pärchen fragte, ob es mich fotografieren dürfe. Ich sah sie nur an, und sie flohen.
Damit mir nicht langweilig wurde, ging ich im Kopf durch, was ich über den Unnatural Inquirer wusste. Ich hatte die eine oder andere Ausgabe gelesen, aber das hatte jeder. Die Leute mögen Klatsch und Tratsch, wie wir im Endeffekt auf alles stehen, was schlecht für uns ist. Die Nightside hat ihre eigene Zeitung von Rang und Namen, die Night Times . Der Unnatural Inquirer auf der anderen Seite hat sich niemals von bloßen Fakten Grenzen setzen lassen. Für ihn war die Story alles, und jede Meldung konnte hingebogen werden, bis sie passte.
Den Unnatural Inquirer gab es in seinen verschiedensten Inkarnationen bereits seit über hundert Jahren, trotz der zahlreichen und zunehmend gewalttätigen Versuche, dem ein Ende zu setzen. Dieser Tage arbeiteten die Redaktion, der Vertrieb und der Druck in jeweils eigenen, äußerst geheimen Taschendimensionen, verborgen unter unzähligen Schichten äußerst ernstzunehmender Schutzmechanismen. Man konnte bis hinab zur siebten Generation verflucht werden, wenn man diese suchte. Die Verteidigungsmechanismen der Zeitun g wurden ständig auf den neusten Stand gebracht, da das Blatt sehr mächtige Feinde hatte. Zum Teil, weil es Übertreibungen, Klatsch und eindeutige Lügen über gehr einflussreiche Leute abdruckte, und zum Teil, weil hie und da eine Wahrheit da ru nter war, die sich sonst niemand zu publizieren wagte. Das Blatt hatte
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