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Bilder bluten nicht

Bilder bluten nicht

Titel: Bilder bluten nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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zugeschickt worden war und mir ermöglichen sollte, den herumstrolchenden Dorf-Casanova erkennen zu können. Was hatte ich wohl mit dem Foto gemacht? Ich hatte es nicht zurückgeschickt, dessen war ich sicher. Und es war nicht mehr in meiner Brieftasche.
    Ich zog mich an, um zu meiner Abendgesellschaft zu gehen. Da ich noch genug Zeit hatte, ging ich noch einmal in der Agentur vorbei. Auch dort läutete das Telefon. Ich nahm nicht ab. Mit Sicherheit immer noch Marc Covet. Nach kurzer Zeit hatte mein hartnäckiger Anrufer die Nase voll, sich selbst auf den Wecker zu gehen. Inzwischen sah ich die Akte Lheureux durch.
    Das fragliche Foto war nicht eingeheftet worden, oder aber es war aus der Akte verschwunden. Hatten sich meine Einbrecher um das Foto von Lheureux so mörderisch gestritten? Kaum wahrscheinlich. Soweit ich mich erinnern konnte, war dieser Ordner nicht vom Regal heruntergenommen worden. Aber sie hatten es mir vielleicht aus meiner Brieftasche geklaut, wo es sich wahrscheinlich seit dem ersten Brief von Madame Lheureux befunden hatte.
    „Noch ein Geheimnis, hm?“ sagte ich zum Telefon, das wieder in Schwingungen versetzt wurde.
    Es war zu spät, um das Geheimnis zu lüften. Ich räumte den ganzen Krempel weg und verdrückte mich; das Telefon ließ ich läuten. Das belebte den Raum.
     

10
    Die Grille und die Heuschrecke
     
    Die „Grille“, war ganz in der Nähe von Gilles’ Cabaret, und am Abend der Eröffnung machte sie ihm starke Konkurrenz. Beinahe alle Autos, die entlang der Avenue de L’Opéra und in den anliegenden Straßen geparkt waren, gehörten den Gästen des neuen Lokals. Ich wirkte ganz wie ein Bauer, wie ich da zu Fuß in dem gräßlich eisigen, feinen Nieselregen aufkreuzte. Meine einzige Entschuldigung war, daß ich aus der Nachbarschaft kam. Unter dem unsicheren Schutz des schmalen Vordachs eines nahen Geschäftes mit heruntergelassenem Eisengitter rauchte ein Mann melancholisch eine Zigarette. Als ich neben ihm war, grinste er und löste sich von der Wand. Ich erkannte Chassard.
    „Bedauern Sie es?“ fragte ich.
    „Was?“
    „Das mit der Karte.“
    „Ich pfeif auf die Karte. Ich beobachte das Treiben hier. Das macht mir Spaß.“
    „Viel alte Schachteln da drin?“
    „Scheren Sie sich zum Teufel!“
    „Ich brauch noch eine Adresse, mein Lieber.“
    Er wurde blaß. Sein Gesicht war wutverzerrt. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt, ein böses Grinsen verkrampfte seine Lippen. Er zuckte die Achseln, schlug den Mantelkragen hoch und ging weiter, leise vor sich hinpfeifend.
    Ich betrat das Cabaret, gab meine Garderobe ab und ging hinunter in den Saal, wo eine glänzende, luxuriöse Atmosphäre herrschte. Es roch nach hellem Tabak, Alkohol und teurem Parfüm. Vielleicht auch ein wenig nach Haut. Eine winzige Bühne erhob sich im hinteren Teil, und das Publikum drängte sich um eine winzige Tanzfläche. Nur die Gläser, aus denen getrunken wurde, waren nicht winzig. Es war prachtvoll. Mir gelang es, mich in eine Ecke zu drücken, und ich hörte eine Möchtegern-Damia Feuilles d’automne singen und dann La complainte de Jack l’Eventreur, Musik von Christiane Verger:
     
    ... Catins, il n’est pas de meilleure
    façon de quitter le métier
    lorsque rôde dans le quartier
    le miché de la dernière heure.
     
    Voici que passe le fantôme.
    La brume descend en nos coeurs.
    Voici que passe le fantôme
    le fantôme de Jack l’Eventreur.
     
    Die Sängerin verbeugte sich unter dem tosenden Beifall und schien, da ihr Busen ein wenig zu üppig war, sich nicht mehr aufrichten zu können. Schließlich klappte es. Ein Mann im Smoking trat an den Platz des Opfers des Londoner Sadisten und kündigte an, daß jetzt, Mesdames et Messieurs, ein wenig getanzt würde, zur Musik des Or-ches-ters Pas-cal Pas-cal, ein Doppelname, zwei Wörter, vier Silben. Die Musiker stürmten auf die Bühne und fingen an, Krach zu machen.
    Die Darbietungen waren von geschickten Lichteffekten begleitet gewesen, mit deren Hilfe ich Geneviève Levasseur mit den Augen gesucht hatte. Durch den Tabakrauch hindurch entdeckte ich sie in Begleitung von Freunden an einem Tisch, der sehr weit von meinem entfernt war. Sie schien sich nicht gerade wahnsinnig zu amüsieren. Wie eine Witwe, die aufgrund ihres Berufes dazu gezwungen ist, um jeden Preis Eindruck zu machen, also: Lachen beim Bauchaufschlitzen und dem ganzen Zeug. Ich wühlte mich zu ihr durch, blieb vor ihrem Tisch stehen. Sie hob den Blick und sah mich mit

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