Bilder von A.
So habe ich sie erfahren. So habe ich sie verstanden.
Mein Vater hatte ja auch immer gesagt, was gibt es denn für einen Unterschied, Jude – Deutscher, das spielt doch überhaupt keine Rolle. Mein plötzlich erwachtes Interesse für mein Judentum hat er belächelt, meine Ausreise bedauert und mich bei meiner Hochzeit mit Yoav kopfschüttelnd unter die Chuppe geführt, vorher noch einen Witz gemacht und hinterher noch oft. Ein bißchen peinlich war ihm das wahrscheinlich auch. Sie waren sichso ähnlich in ihrem Denken und ihren Überzeugungen, diese beiden Männer, die ich liebte. Kommunisten, Atheisten, Antifaschisten, Marxisten, kritische Marxisten, aber keine SED-Tölpel.
Wie konnten sie, nach allem, was geschehen war, nur so etwas denken und sagen, Jude – Deutscher, da gibt’s doch keinen Unterschied! Dieser Satz hat mich zur Verzweiflung gebracht. Sie waren doch nicht blind, taub, herzlos und ohne Verstand. Vielleicht eben gerade deshalb. Oder?
A. behauptete immer, es gebe kein Foto von seinem Vater und er habe keine Erinnerung an ihn und kein Interesse, und ich habe es vorgezogen, nicht weiter nachzufragen.
Kein Interesse am Leben seines Vaters, auch nicht an dem vor dem Krieg, aus dem er nicht mehr zurückkam. Er muß doch eine Herkunft gehabt haben, eine Geschichte. A. inszenierte doch Geschichten. »Er war in meinem Leben immer nur abwesend, spielte keine Rolle. Nie.« Keine Hauptrolle, keine Nebenrolle, nicht einmal eine Statistenrolle. Ein Vater, gestorben, gefangen, gefallen, verschollen, vermißt. Der nie erwähnt wird, als gäbe es keinen Verlust. Es fiel mir schwer, ihm das zu glauben, eigentlich konnte ich es gar nicht fassen.
Wehrmacht, Rußland, Stalingrad – wie so viele deutsche Soldaten, die nicht, wie der Regieassistent, das Glück gehabt hatten, in Dänemark stationiert gewesen zu sein. Mitglied der Nazipartei war der Vater auch gewesen, das hatte A. einmal erwähnt.
Er muß ihn ja noch gekannt haben. Es muß doch ein Leben noch vor dem Krieg gegeben haben, ein ziviles Leben, Kindheitserinnerungen. Was hatte er für einen Beruf, das hätte ich gerne gewußt. Aus reiner Neugier. Mein Vater war Journalist gewesen, aus den Tagen des Krieges gibt es von ihm Fotos aus England, wie er in der Redaktion des Daily Telegraph sitzt, in Zivil, er sieht jünger aus, als ich ihn je gekannt habe, natürlich, und auf dem Titelbild der Zeitung vor ihm erkennt man eine Hitler-Karikatur.
Bei meinen Schulfreundinnen standen auf dem Vertiko in der »guten Stube« oft ein oder mehrere gerahmte Fotos von einem Mann in Wehrmachtsuniform, mit einem Trauerflor geschmückt, ein Opa oder ein Onkel, gefallen oder nicht aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Die Bilder der Männer glichen sich durch die Uniform und den immer etwas gepeinigten Fotoblick. Und auch dadurch, daß ich nie genau hinzusehen wagte.
Ein Bild von A.s Vater gab es jedenfalls nicht, oder er zeigte es nicht. Dafür zeigte er mir einmal ein Foto, auf dem man ihn selbst als vielleicht zehnjährigen Jungen sieht und neben ihm, wie die Orgelpfeifen aufgereiht, noch drei kleine Mädchen, seine jüngeren Schwestern, blondgelockt, mit Schleifen ihm Haar. Süß. Entzükkend. Das Foto natürlich in Schwarzweiß, klein und mit gezacktem Rand, wie Fotos früher aussahen, wenn sie nicht beim Fotografen aufgenommen wurden. Das waren die Schwestern, die das Geräusch des Bügeleisens im Nebenzimmer nicht ertragen konnten. Als er mir dasFoto zeigte, hatte ich den Eindruck, er wollte mir mitteilen, siehst du, um kleine Mädchen habe ich mich schon immer viel gekümmert. Er hatte sie im übrigen sehr gerne, wie er oft bemerkte. Heidemarie, Ingeborg, Ilse.
Obwohl die Bahnen, in denen wir uns bewegten, unsere Leben, die wir weit voneinander entfernt führten, in der Vorstellung des anderen, jedenfalls in meiner, immer unwirklicher wurden, haben wir nicht aufgehört, uns Briefe zu schreiben. In dieser unwirklichen Existenz verwandelten wir uns aber auch einer in des anderen verborgene Tür, die aus dem Märchen, hinter der alle Sehnsüchte, Wünsche, Phantasien, Verwandlungen, dummen Hoffnungen und das Innerste des Herzens, das niemand zu beschreiben weiß, aufbewahrt bleiben, ohne daß etwas davon je verdirbt oder verschimmelt oder sich auch nur abnutzt. Etwas Himmlisches sozusagen, das einzig in der S f äre der Poesie existiert, romantisch und theatralisch und jedenfalls außerhalb des normalen Lebens.
Je weiter sich unsere verschiedenen
Weitere Kostenlose Bücher