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Bilder von dir: Roman (German Edition)

Bilder von dir: Roman (German Edition)

Titel: Bilder von dir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Racculia
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und blutet aus dem Mund, und ich werde jetzt nachsehen, ob er noch atmet, aber die Sache ist …«
    »Beruhigen Sie sich, Miss. Sie müssen sich beruhigen und nach Ihrem Freund sehen. Haben Sie einen Spiegel?«
    »Ich werde dich retten, Eugene«, versprach Oneida der leeren Straße. Hinter sich hörte sie das Knirschen von Kies, als Andrew Lu rasch das Weite suchte – tatsächlich davonrannte , dieser Schlappschwanz. Dieser Mistkerl. Oneida wankte zurück zum Wagen. Was hatte sie sich dabei gedacht, als sie diese Stiefel anzog, doch nur, dass Eugene bei ihrem Anblick diese hysterischen Stielaugen bekommen würde. Sie hatte sie ganz hinten im Flurschrank entdeckt und war wie vor den Kopf geschlagen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Mona sie je getragen hatte und so sahen sie auch aus, alt, aber kaum getragen, das Leder noch fest und steif. Das Etikett, das ihr aufgefallen war, weil es in grellem Pink war – GUMMBALLS ! stand darauf; was für ein verrückter Name für einen Schuhhersteller –, scheuerte oben an ihrer Wade.
    »Haben Sie einen Spiegel gefunden, Miss?«
    »Einen Moment«, sagte Oneida und ließ sich mitten auf die Straße plumpsen, um sich die Stiefel herunterzureißen. Aber das darauffolgende Aufstehen verbrauchte alle Kraft, die sie noch besaß. Ihr Körper würde nicht mehr lang durchhalten, das wusste sie, offenbar wurde er mit purem Adrenalin auf Trab gehalten.
    Sie hatte keinen Spiegel in ihrer Tasche. Sie gelobte sich, von nun an mehr Wert auf Make-up zu legen, und sei es auch nur, damit sie einen Spiegel in ihrer Tasche dabeihatte. Es gab auch keinen Spiegel im Wagen, der nicht fest mit irgendetwas verbunden war oder den sie hätte abnehmen können, ohne etwas zu zerbrechen. »Ich kann keinen Spiegel finden!«, teilte sie der Frau am Telefon mit. »Ich bin so was von bescheuert, ich hab nicht mal eine Puderdose.«
    »Das macht nichts, Miss, alles wird gut.«
    Dann erinnerte Oneida sich daran, was sie besaß, es steckte in der Innentasche ihres Wintermantels: einen Flachmann, halb voll mit Wodka, glänzend und silbern.
    »Ich habe einen Flachmann!« sagte sie, und die Frau am Telefon gab einen verwirrten Laut von sich, und das schwache Heulen einer Sirene wurde lauter, als würde jemand die Lautstärke am Fernseher aufdrehen. Oneida, die am Nachmittag den ersten Schluck Wodka ihres Lebens genommen hatte, schraubte den Verschluss auf und nahm ihren zweiten. Sie hatte es für die richtige Einstimmung auf so eine lahme Schulveranstaltung gehalten; sie hatte vorgehabt, Eugene damit zu schockieren (und ihn eventuell mit ihm zu teilen). Warum jemand dieses Gesöff aus einem anderen Grund, als sich zu betrinken, trank, überstieg ihre Vorstellungskraft.
    Zitternd kroch sie zurück auf den Beifahrersitz und hielt Eugene die Flasche so dicht unter die Nase, wie das nur möglich war, aber es war viel zu dunkel im Wagen, und sie konnte nicht erkennen, ob sein Atem das Silber beschlug. Außerdem lag er so unmöglich gekrümmt da, so dicht über dem Lenkrad, dass sie den Flachmann gar nicht richtig unter seine Nase oder seinen Mund brachte.
    Im Radio lief jetzt ein anderer Song, ein Oldie, aber einer, den sie kannte, etwas Munteres und Elektronisches aus den Achtzigern. Viel zu schnell, viel zu fröhlich, um real zu sein. Oneida hätte das Radio am liebsten angeschrien. Sie teilte der Frau von der Notrufzentrale mit, dass sie den Spiegel nicht nah genug an Eugenes Gesicht bekam, um feststellen zu können, ob er atmete, und die Frau von der Telefonzentrale sagte ihr, sie solle sich aufrecht hinsetzen und warten. Die Sirene wurde lauter und lauter. Oneida schraubte die Flasche wieder auf und trank ihren dritten und vierten Schluck Wodka. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle, die vom Erbrechen bereits ganz wund war.
    Oneidas Hände begannen zu zittern. Eugene wachte nicht auf, Eugene rührte sich nicht und mochte es auch am fünften und sechsten Schluck Wodka liegen, der sich bemerkbar machte, Oneida jedenfalls wurde vom plötzlichen Schrecken der Wahrheit erfasst – sie mochte ihn tatsächlich. Mochte ihn , mochte ihn. Schon vor schätzungsweise zwanzig Minuten, als sie einander auf dem Schülerparkplatz angelächelt hatten, hatte sich diese Vermutung bemerkbar gemacht. Und sie an jenen Tag in Dreyers Unterricht erinnert, als er Andrew Lus Gitarre zertrümmert hatte, denn auch da hatten sie sich nur mit einem Blick verständigt, sie beide, eine Insel in einem Meer bedeutungslosen Klangs. Dieser eine

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