Bildnis eines Mädchens
Schluchzen verebbte. Betsy verdaute, was sie gerade gehört hatte.
»Mathilde, ich hab Hunger. Wir sollten erst mal was essen, was meinst du?«
Unter den Löckchen drang es dumpf hervor: »Auf keinen Fall. Ich kann doch so nicht in den Speisesaal. Ich bin völlig verheult!«
Betsy war zufrieden. Das klang, als wäre Mathilde nach einer stürmischen Fahrt auf See wieder an Land gestiegen.
»Lass dich mal ansehen!« Sie zog die junge Frau hoch und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht. »Hm.« Das Kind sah wirklich
völlig verschwollen aus. »Vielleicht lassen wir uns was aufs Zimmer bringen? Du sollst dich sowieso hinlegen, hat Dr. Bernhard gesagt …«
»Tante Betsy, hast du eigentlich gehört, was ich gesagt habe?«
»Hab ich. Aber hungrig kann ich nicht nachdenken. Und ich glaube, da gibt es einiges nachzudenken.«
»Du weißt noch nicht alles«, setzte Mathilde hinzu.
»Das befürchte ich.«
»Ich …«
»Halt. Ich lasse jetzt vom Stubenmädchen Wasser bringen.Dann wäschst du dir das Gesicht und legst dich hier auf die Couch. Wir decken dich schön zu, der Etagenkellner serviert uns
eine Kleinigkeit, ich brauche ein Glas Wein oder auch zwei, denn so einfach, wie ich dachte, ist das alles doch nicht. Und
dann schauen wir weiter.«
Betsy seufzte. Plötzlich hatte sie Mitgefühl mit ihrer Schwester Emma und nicht nur mit ihrer Nichte. Sie bewunderte alle
Frauen, die Mütter waren. Mein Gott, man musste ja höllisch aufpassen, um nicht gleich das Falsche zu sagen.
Sie ging zur Tür und klingelte nach dem Mädchen.
Musste das sein? Betsy schüttelte den Kopf. Ausgerechnet James. Ein Frauenheld. Ein Künstler. Ein Mann, wie sie vermutete,
ohne großes Vermögen. Bedauerlich, denn Vermögen hätte wettgemacht, dass er Künstler war. Ein Mann, der ihr selbst gefiel.
Ausgerechnet. Sie war fünfunddreißig, erfahren, finanziell unabhängig. Sie konnte sich einen Mann wie James leisten, wenn
sie wollte, auch wenn es niemand – niemand!– gutheißen würde. In James lagen viele Verheißungen verborgen, die reifere Frauen
zu schätzen wussten. Aber Mathilde! Nicht nur würden die Eltern ihr diese Beziehung selbstverständlich verbieten, das Mädchen
hatte sich auch verrannt in Gefühle, die der gute James ganz sicher nicht erwiderte. Sie hatte doch gesehen, wie er mit Kate
die ganze Zeit zusammensteckte. Wie sollte er sich in dieses naive Kind verlieben, von ernsthafter Bindung und Treue gar nicht
zu reden. Sie selbst hatte eine Ehe hinter sich, mit allen Illusionen und Desillusionierungen. Wenn sie etwas von der Liebe
erwartete, dann war das etwas grundsätzlich anderes, als es Mathilde vorschweben musste.
Aber welches Recht hatte sie, darüber zu befinden? Liebe ist ein großes Wort. Jeder füllt es mit seinen eigenen Vorstellungen.
Betsy warf einen Blick in den Spiegel des Badezimmers,sah sich in die dunkelblauen Augen, steckte den hübschen Hornkamm fest, überprüfte, ob ihr hochgestecktes Haar noch überall
saß, und fuhr sich mit beiden Händen über die Flügel der schmalen, kühn vorspringenden Nase. Dann kehrte sie in das Hotelzimmer
zurück, holte tief Luft und war bereit anzuhören, was Mathilde ihr noch alles zu erzählen hatte.
»Und warum hast du dich mit Adrian verlobt, wenn du ihn nicht heiraten willst?«, fragte Betsy.
»Weil ich damals noch nicht wusste, was Liebe ist«, erwiderte Mathilde.
»Aha. Und was, meinst du, ist Liebe?«
»Was ich für James fühle.«
»Aber du warst schon, bevor wir James getroffen haben, nicht sehr eifrig darin, dich für Adrians Briefe und Telegramme zu
bedanken und ihn anzurufen. Oder irre ich mich da?«
Mathilde schwieg. Endlich sagte sie: »Er ist nett. Er sieht gut aus. Er liebt mich. Er erbt das Bankhaus.«
»Aber?«
»Es ist langweilig mit ihm.«
Betsy biss sich auf die Zunge. Das sind im Großen und Ganzen ziemlich gute Voraussetzungen für eine Ehe, hätte sie fast gesagt.
»Hm. Und James ist nicht langweilig.«
Mathilde setzte sich lebhaft auf dem Sofa auf.
»James ist unheimlich aufregend. Er ist charmant, witzig, erfahren …«
»… und geheimnisvoll. Man weiß nicht, was er sonst noch so alles tut«, ergänzte Betsy.
»Er weiß, wie man mit einer Frau umgeht …«
»Aber du bist noch eine sehr junge Frau.«
Mathilde errötete. »Tante Betsy«, sagte sie, »ich bin schrecklich müde.«
»Schon gut. Schlaf ein bisschen. Aber irgendwann sagst dumir, wo du deinen Sonnenschirm
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