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Billard Um Halb Zehn: Roman

Billard Um Halb Zehn: Roman

Titel: Billard Um Halb Zehn: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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an Otto war nichts Rührendes, wie er es manchmal an Nettlinger entdeckte; dieser Macht ging es nicht um gewonnene Boxkämpfe, um buntgekleidete Mädchen; sogar in diesem Hirn war die Macht schon Formel geworden, der Nützlichkeit entkleidet, von Instinkten befreit, war fast ohne Haß, vollzog sich automatisch: Schlag auf Schlag.
    Bruder, ein großes Wort, Hölderlinwort, gewaltig, das aber nicht einmal der Tod zu füllen schien, wenn es Ottos Tod war; nicht einmal die Todesnachricht hatte Versöhnung gebracht: Gefallen bei Kiew! Das hätte doch klingen können: nach Tragik, Größe, Brüderlichkeit, hätte verbunden mit dem Lebensalter
    rührend sein können wie auf Grabsteinen: fünfundzwanzig Jahre
    alt, gefallen bei Kiew; aber es klang nicht, und er bemühte sich vergebens, die Versöhnungsversuche nachzuvollziehen; ihr seid doch Brüder; sie waren es, laut Standesamtsregister, laut Aussage der Hebamme; vielleicht hätte er Rührung und Größe fühlen können, wenn sie einander wirklich fremd gewesen wären, aber sie waren es nicht; er sah ihn essen, trinken: Tee, Kaffee, Bier; aber Otto aß nicht das Brot, das er aß, trank nicht die Milch und den Kaffee, den er trank; und es war noch schlimmer mit Worten, die sie wechselten: wenn Otto Brot sagte, klang es weniger vertraut in den Ohren wie das Wort
    ›pain‹, als er es zum ersten Mal hörte und noch gar nicht wußte, daß es Brot bedeutete; einer Mutter und eines Vaters Söhne, in einem Haus geboren und aufgewachsen, gegessen, getrunken, geweint, dieselbe Luft geatmet, denselben Schulweg gehabt; und zusammen gelacht, gespielt, und er hatte zu Otto ›Brüderchen‹ gesagt und den Arm des Bruders um seinen Hals gespürt, seine Angst vor der Mathematik erfahren, ihm geholfen, tagelang mit ihm gepaukt, um ihm die Angst zu nehmen, und hatte es fertiggebracht, ihm die Angst wirklich zu nehmen, dem Brüderchen - und nun plötzlich, nach den zwei Jahren, die er weg gewesen war: nur noch Ottos Hülle; nicht einmal mehr fremd; nicht einmal das Pathos dieses Wortes; es zog nicht, stimmte und klang nicht, wenn er an Otto dachte, und er begriff zum ersten Mal, was es wirklich bedeutete, Ediths Wort, vom Sakrament des Büffels essen; der hätte seine Mutter dem Henker ausgeliefert, wenn die Henker sie hätten haben wollen.
    Und wenn er zu einem der Versöhnungsversuche wirklich hinaufgestiegen war, Ottos Tür geöffnet hatte, eingetreten war, drehte Otto sich um und fragte: ›Was soll's?‹ Otto hatte recht: was sollte es. Wir waren einander nicht einmal fremd, kannten einander genau, wußten voneinander, daß der eine Apfelsinen nicht mochte, der andere lieber Bier als Milch trank, statt Zigaretten lieber Zigarillos rauchte, und wie der eine sein Lesezeichen im Schott zurechtlegte.
    Er wunderte sich nicht, daß er Ben Wackes und Nettlinger in Ottos Zimmer hinaufgehen sah, ihnen im Flur begegnete, und er erschrak über die Erkenntnis, daß die beiden ihm weniger unverständlich waren als sein Bruder; sogar Mörder waren nicht immer Mörder, waren es nicht zu jeder Stunde des Tags wie der Nacht, es gab den Feierabend des Mörders, wie es den Feierabend des Eisenbahners gab; jovial waren die beiden, klopften ihm auf die Schulter; Nettlinger sagte: ›Na, war ich's nicht, der dich laufen ließ?‹ Sie hatten Ferdi dem Tod überliefert, Groll und Schrellas Vater, den Jungen, der die Botschaften überbrachte, dorthin geschickt, wo man spurlos verschwindet, aber nun: Schwamm drüber. Man ist doch kein Spielverderber. Nichts für ungut. Feldwebel bei den Pionieren; Sprengspezialist, verheiratet, mit Wohnung, Rabattsparbuch und zwei Kindern. ›Um deine Frau brauchst du dich nie zu sorgen, der wird nie was passieren, solange ich noch da bin.‹
    »Nun? Hast du mit Otto gesprochen? Ohne Erfolg? Ich habe es gewußt, aber man muß es immer wieder versuchen, immer wieder; komm näher, leise, ich muß dir was sagen! Ich glaube, er ist verflucht, behext, wenn dir das besser gefällt, und es gibt nur einen Weg, ihn zu befreien: ich muß haben ein Gewehr, muß haben ein Gewehr; der Herr spricht: ›Mein ist die Rache‹, aber warum soll ich nicht des Herrn Werkzeug sein?«
    Sie ging zum Fenster, nahm aus der Ecke zwischen Fenster und Vorhang den Spazierstock ihres Bruders, der vor dreiundvierzig Jahren gestorben war, legte den Stock an wie ein Gewehr und zielte, nahm Ben Wackes und Nettlinger aufs Korn; sie ritten draußen vorüber, der eine auf einem Schimmel, der andere auf einem

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